Schwäbische Zeitung (Biberach)
Christen am Scheideweg
Ins nordirakische Karakosch kehren die Menschen zurück – Ob nach der IS-Barbarei das Christentum dort eine Chance hat, bleibt offen
tille herrscht in Karakosch, Totenstille. Die nordirakische Stadt in der Ninive-Ebene, in der vor der Eroberung durch Terroristen des „Islamischen Staates“(IS) im Jahr 2014 etwa 60 000 Menschen, 50 000 Christen und 10 000 Muslime, lebten, ist zwar seit Oktober vergangenen Jahres vom IS befreit. Das irakische Staatsfernsehen strahlte Bilder aus, auf denen Soldaten die irakische Flagge im Stadtzentrum hissen. Aber Karakosch bleibt in Wirklichkeit vorerst trostlos und fast menschenleer: Nur 70 Familien sind bisher zurückgekehrt und arbeiten am Wiederaufbau. Viele von ihnen verlassen die Stadt jeden Abend, kehren in sichere Gebiete zurück: Zu groß ist die Angst vor versprengten IS-Kämpfern, die aus der mittlerweile befreiten, nur 20 Kilometer entfernten Millionenmetropole Mossul nachts einsickern könnten.
Ein kleiner Stadtrundgang führt vorbei an zerstörten Gebäuden. Etliche Häuserfassaden sind rußgeschwärzt. Vor ihrem Rückzug haben die Fanatiker gewütet, besonders in den Kirchen. Glockentürme sind eingestürzt, das Innere der Gotteshäuser ist ausgebrannt. Sie haben Statuen enthauptet und Gesichter aus Reliefs gekratzt. Reste verbrannter Bibeln liegen auf den Altären.
„Die Kirchen werden wir als Letztes instand setzen. Viel wichtiger ist es, den Menschen zu helfen. 3000 Häuser sind ausgebrannt, an 5000 Häusern gibt es unterschiedlich große Schäden“, sagt Pater George. Er ist Priester der syrisch-katholischen Gemeinde.
Christen fliehen
Die Gemeinde hat die Schäden katalogisiert, aufgeschrieben, wie teuer die Reparaturen werden. Pater George und die anderen Geistlichen wollen, dass die Flüchtlinge wieder nach Hause kommen. Lange darf es nicht dauern, viele Menschen haben sich schon ins Ausland abgesetzt. Von den 1,5 Millionen Christen, die unter Saddam Hussein im Irak lebten, sind gerade einmal noch 250 000 geblieben. Sie fliehen nicht nur vor den ISTerroristen, sondern auch vor der Gleichgültigkeit ihrer muslimischen Nachbarn.
Dass Christen und Muslime wie vor dem Krieg in Karakosch wieder friedlich zusammenleben werden, glaubt in dem kleinen Wiederaufbautrupp in Karakosch so gut wie niemand: „Das Vertrauen ist einfach nicht mehr da“, fasst Pater George zusammen. Nachbarn seien über Nacht zu Feinden geworden, Männer wurden enthauptet, Frauen und Mädchen vergewaltigt, Familien vertrieben.
Was Seef, er ist Agraringenieur und hat an der Universität von Mossul studiert, leitet jetzt eine Art Bauernhof-Kollektiv. Der Mittfünfziger sitzt vor einem Café an der Haupteinkaufsstraße von Karakosch, vor dem Café sind Wasserpfeifen aufgestellt, drinnen sitzen einige verschwitzte Männer, die Pause von der Arbeit machen. Seine Forderung ist die Forderung so gut wie aller Gesprächspartner in der zerstörten Stadt: „Was wir hier dringend brauchen, ist Sicherheit. Ohne Sicherheit wird es kein Vertrauen geben. Wenn Sicherheit und Vertrauen gewährleistet sind, dann kann in Karakosch alles wie früher werden.“Seef ist enttäuscht: „Zurzeit vertrauen wir unseren früheren Nachbarn nicht. Die Muslime, mit denen wir zusammengelebt haben, haben sich dem IS angeschlossen und uns bestohlen. Aber natürlich brauchen wir auch Hilfe beim Wiederaufbau. Es ist so viel zerstört worden. Wir hoffen darauf, dass die Kirche oder der Staat uns unterstützen. Dann gibt es eine Chance, zu bleiben.“
In vielen Orten der Ninive-Ebene rollen trotz dieser Bedenken in diesen Wochen die Baustellenfahrzeuge an, um die ersten Häuser wieder neu zu errichten, die durch den IS zerstört worden waren. „Der Beginn der Bauarbeiten ist ein historisches Ereignis für die Zukunft des Christentums im Irak“, sagt der Nahost-Referent von der Hilfsorganisation „Kirche in Not“, Andrzej Halemba. Er ist derzeit Vorsitzender des Wiederaufbau-Komitees, in dem die syrisch-orthodoxe, die syrisch-katholische und die chaldäisch-katholische Kirche vertreten sind. Das Komitee war im März gegründet worden, um den Wiederaufbau der christlichen Gebiete zu koordinieren und zu überwachen. Vorher waren bereits die Schäden aufgenommen und dokumentiert worden. Die Gesamtkosten für den Wiederaufbau werden auf über 250 Millionen US-Dollar geschätzt.
Eine Tragödie droht
„Kirche in Not“-Referent Halemba sieht die Christen im Irak am Scheideweg: „Wenn wir jetzt die Gelegenheit verpassen, den Christen der Ninive-Ebene beim Wiederaufbau zu helfen, werden sich voraussichtlich viele von ihnen entscheiden, ihr Heimatland für immer zu verlassen.“
Dies wäre eine Tragödie, nicht nur für die 2000-jährige christliche Präsenz im Irak, „sondern auch politisch und kulturell. Die Christen leisten einen entscheidenden Beitrag zum Bildungssystem und bilden die Brücke zwischen verschiedenen muslimischen Gruppen, die sich bekämpfen.“
Doch unter den Christen scheint sich die Stimmung zu drehen: Bei einer Umfrage im März waren 13 000 Flüchtlingsfamilien in der KurdenHauptstadt Erbil befragt worden, ob sie in ihre Heimat zurückkehren wollten. 41 Prozent bejahten das; weitere 46 Prozent ziehen eine Rückkehr ernsthaft in Erwägung. Bei einer ähnlichen Umfrage im Dezember 2016, auf dem Höhepunkt der Gegeninvasion, hatten nur 3,3 Prozent der Befragten erklärt, in ihre Heimatorte zurückkehren zu wollen.
Khalid Mussa Atala (65) ist einer der Rückkehrer, einer seiner drei Söhne lebt in Deutschland. Er hat ein Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Karakosch und berichtet: „Ich bin vor einer Woche wieder zurückgekommen. Vorher habe ich zur Miete in einem Haus in Erbil gelebt. Dort sind jetzt auch noch meine Töchter und meine Frau. Es war für mich ein Schock zu sehen, wie sehr zerstört Karakosch ist.“Er selbst habe Glück gehabt: „Mein Haus wurde ausgeplündert, aber es wurde wenigstens nicht in Brand gesteckt.“
Es braucht Sicherheit
Atala und Pater George rechnen damit, dass in diesen Wochen mehr Menschen zu den bereits zurückgekehrten 70 Familien nach Karakosch kommen werden, weil die Schulferien begonnen haben. Atala setzt darauf, dass Hilfe von außen kommt: „Ich hoffe sehr darauf, dass die Stadt wieder aufgebaut wird, das ist doch unsere Heimat. Wir brauchen aber Sicherheit hier“, bekräftigt er. „Deswegen wünsche ich mir internationalen Schutz. Dann wäre es auch möglich, dass Muslime und Christen zusammenleben können. Wenn es diesen Schutz gibt, kann ich mir auch vorstellen, dass diejenigen wieder zurückkommen, die ins Ausland geflohen sind.“