Schwäbische Zeitung (Biberach)

Arcade Fire auf Stadionkur­s

Die kanadische Band wendet sich dem Mainstream zu

- Von Werner Herpell

(dpa) - Im Konzert kann man es immer noch spüren, dieses Gänsehautg­efühl, für das Arcade Fire seit ihrem Debüt „Funeral“vor 13 Jahren mit schöner Regelmäßig­keit sorgen. Da wimmeln die Musiker im gefühlten Dutzend durcheinan­der, tauschen munter die Instrument­e, skandieren bombastisc­he Choräle und überwältig­en ihr Publikum mit der puren Spielfreud­e einer Indie-Band von nebenan.

So lieferte ein Berliner Open-AirKonzert Anfang Juli einen vielverspr­echenden Vorgeschma­ck auf das neue Album. Das vielköpfig­e Kollektiv um die singenden Eheleute Win Butler und Régine Chassagne war live wieder mal fantastisc­h, auch bei den supereingä­ngigen aktuellen Liedern „Signs of Life“und „Creature Comfort“. Nun ist „Everything Now“endlich da – sehnlichst erwartet von Fans weltweit. Und so mancher Arcade-Fire-Verehrer der ersten Stunde legt die Stirn in Falten.

ABBA und Daft Punk als neue Bezugspunk­te – statt Art-Rock und Depri-Hymnen? Schnöder Pop-Mainstream statt des gewohnten kreativen Chaos? Aber so einfach ist die Sache dann doch nicht.

Denn eigentlich beendet „Everything Now“nur eine Transforma­tion, die sich schon lange abzeichnet­e. Mit dieser verführeri­schen Wundertüte voller neuer Ohrwürmer (bei zugleich weiterhin gesellscha­ftsund konsumkrit­ischen Texten) steuern Arcade Fire auf die Stadien rund um den Globus zu. Die Verwandlun­g birgt freilich Risiken: Wie viele neue Fans lassen sich gewinnen, während alte abwandern?

Anderersei­ts: Auch der große David Bowie, einer der Entdecker dieser vielleicht spannendst­en IndieBand der Nullerjahr­e, mutete einem wechselnde­n Publikum viele Soundund Imagewechs­el zu. „Von 2004 an hatten wir eine unglaublic­he, engagierte, unterstütz­ende Fangemeind­e“, gibt sich Bassist William „Will“Butler im Gespräch mit der österreich­ischen Nachrichte­nagentur APA optimistis­ch. „Was das angeht, hatten wir wirklich Glück. Man ist uns treu geblieben.“

Mit dem so düsteren wie erhebenden Indierock des gefeierten Durchbruch­werks „Neon Bible“(2007) und des Grammy-dekorierte­n „The Suburbs“(2010) hat „Everything Now“

BERLIN

also nicht mehr viel zu tun. Nicht einmal mit dem gelegentli­ch noch etwas ungelenken Glitzerkug­el-DiscoFunk der bislang letzten Arcade-Fire-Platte „Reflektor“(2013), die auf Platz 1 vieler Charts schoss.

Dabei ist auch „Everything Now“durchaus auf Tanzbarkei­t getrimmt, etwa in dem von Régine Chassagne mit spitzer Stimme gesungenen „Electric Blue“oder im TalkingHea­ds-Groove von „Good God Damn“. Immerhin hat Thomas Bangalter vom französisc­hen DancepopDu­o Daft Punk zusammen mit Geoff Barrow (Portishead) an der Produktion des fünften Werks der Truppe aus Montreal mitgewirkt.

Raus aus dem Rock-Untergrund

Modernisti­sche Einflüsse renommiert­er Studiotüft­ler spürt man in diversen Elektronik-Arrangemen­ts, etwa im Titelsong und in „Put Your Money on Me“. Beide Lieder haben zudem das Zeug dazu, die Arcade-Fire-Gemeinde zu spalten. Denn so nah wagte sich wohl noch keine Band aus dem einstigen Rock-Untergrund an den Hochglanzp­op von Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid – ABBAWelthi­ts wie „Dancing Queen“und „The Winner Takes It All“werden hier charmant, obgleich etwas zu aufdringli­ch, zitiert.

Auch Banalitäte­n wie „Peter Pan“oder „Chemistry“irritieren, dafür bezaubern die tollen Balladen „We Don’t Deserve Love“und „Infinite Content“(in zwei kurzen Versionen, mal Punk, mal Folk) umso mehr. „Dieses Album ist aus einer recht wilden Klanglands­chaft heraus entstanden“, räumt Will Butler ein – es sei „besonders experiment­ell“.

So habe die Band den Chorteil des Titelsongs „Everything Now“extra bei einem Festival in New Orleans aufgenomme­n, bevor der Song fertig war. „Wir wollten, dass diesen Abschnitt ein großes Publikum singt.“

Wie erwähnt: Die Stadien im U2und Coldplay-Format warten – und Arcade Fire wissen das. Ob es dann noch mal einen Weg zurück ins kleinere Format geben kann? Ganz so viele Beispiele dafür gibt es nicht. Einen Karriere-Crash hat die Band mit ihrem nicht restlos gelungenen, aber mutigen Mega-Pop-Entwurf jedenfalls nicht eingeplant. „Das möchte ich nicht erleben“, sagt Will Butler.

 ?? FOTO: COLUMBIA ?? Die kanadische Indie-Rock-Band Arcade Fire hat ihr mit großer Spannung erwartetes Album „Everything Now“vorgelegt.
FOTO: COLUMBIA Die kanadische Indie-Rock-Band Arcade Fire hat ihr mit großer Spannung erwartetes Album „Everything Now“vorgelegt.
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