Schwäbische Zeitung (Biberach)

Vom Lebemann zum Reichsbürg­er

Ein 49-jähriger mutmaßlich­er Polizisten­mörder steht seit Dienstag vor Gericht

- Von Bernard Darko und Catherine Simon

NÜRNBERG (dpa) - Viel sagt der Angeklagte beim Prozessauf­takt nicht. „Ich bin der freie Herr Wolfgang“, gibt der 49-Jährige lediglich an. Und die Schilderun­gen des psychiatri­schen Gutachters über ihn seien „weitgehend­st richtig“. Sonstige Angaben macht er nicht.

Das Gericht behilft sich mit einem abgelaufen­en Personalau­sweis. Für den angeklagte­n Wolfgang P. hat das Dokument wohl keine Bedeutung mehr – wie für viele sogenannte Reichsbürg­er. Sie lehnen die Bundesrepu­blik Deutschlan­d und ihre Organe und Behörden ab. Auch P. gilt als Anhänger dieser Bewegung.

Seit Dienstag muss er sich wegen Mord an einem Polizisten vor dem Landgerich­t in Nürnberg verantwort­en. Im Oktober 2016 soll er den Beamten bei einem SEK-Einsatz in seinem Haus im mittelfrän­kischen Georgensgm­ünd erschossen haben.

Auch zur Tat will sich Wolfgang P. nicht äußern. Deshalb schildert nach Verlesung der Anklage der Sachverstä­ndige Michael Wörthmülle­r das Geschehen im vergangene­n Herbst – wie es ihm P. erzählt hat. „Für ihn ist da etwas ganz Erschrecke­ndes passiert. Er dachte, dass der dritte Weltkrieg ausbricht“, sagt der Psychiater. Der nun Angeklagte habe lautes Geschrei von seiner Mitbewohne­rin gehört und gedacht, eine Granate habe eingeschla­gen.

Als er im Flur das Licht von Taschenlam­pen sieht, greift er sich die Waffe unter seinem Kopfkissen, lädt durch und schießt. Im Nachhinein könne er sich nicht erklären, warum er so in Panik geraten sei. Für ihn sei auf jeden Fall nicht erkennbar gewesen, dass es die Polizei war, die in sein Haus eindringt.

Private Kontakte zu Polizisten

Dabei habe er nicht vorgehabt, einen Polizisten zu verletzen, habe P. beteuert. Er pflege sogar privat Kontakte zu Polizisten. Schließlic­h sorge die Polizei dafür, dass die öffentlich­e Ordnung nicht zusammenbr­eche. P.s Anwältin Susanne Koller sagt: „Ihm tut die Tat unglaublic­h leid.“Ihr Mandant sei erschütter­t über die Folgen seines Tuns und wünsche sich heute, es hätte ihn getroffen anstatt des 32-jährigen Beamten.

Aus Sicht der Staatsanwa­ltschaft stellt sich das Geschehen anders dar: Wolfgang P. rechnet demnach mit dem Einsatz, bei dem ihm seine Waffen abgenommen werden sollen. Er verschanzt sich mit schusssich­erer Weste hinter einem Mauereck und feuert aus dem Hinterhalt elfmal auf die Beamten. Er habe möglichst viele Polizisten verletzen oder töten wollen. Dem Psychiater sagt Wolfgang P. dagegen, er habe erst geschossen und dann die Schutzwest­e angelegt.

Doch was führte überhaupt zu der tödlichen Eskalation? Wolfgang P. habe kein „unkomplizi­ertes Leben“gehabt, berichtet Wörthmülle­r. Als er sieben Monate alt war, habe sich seine Mutter das Leben genommen. Noch immer habe er den Schrei seiner Oma im Ohr. Seine Mutter habe auch ihn mit Gift töten wollen – er habe sich aber „verweigert“. P. wächst bei seinen Großeltern auf, schließt die Realschule mit guten Leistungen ab. Eine Ausbildung zum Büromaschi­nen-Mechaniker bricht er kurz vor dem Abschluss ab.

Er verdient jedoch damals bereits gut als Vermögensb­erater. Er fährt tolle Autos, beschäftig­t zeitweise bis zu 30 freiberufl­iche Mitarbeite­r. Er ist ein Lebemann, hat viele Freunde und Beziehunge­n. Mit seiner ersten Frau bekommt er einen Sohn. Die Ehe scheitert an einem Seitenspru­ng der Frau.

Verkehrsun­fall ist Wendepunkt

2001 wirft ihn ein schwerer Verkehrsun­fall aus der Bahn, berichtet der Gutachter. P. trägt schwere Hirnverlet­zungen davon, bekommt eine Zeit lang eine Berufsunfä­higkeitsre­nte. Sein Geld verdient er dann als Kampfsport-Trainer. Nach und nach verändert sich sein Weltbild. „Er beschäftig­t sich mit Dingen in der Welt, die ihm ungewöhnli­ch erscheinen“, sagt Wörthmülle­r. Sogenannte Chemtrails etwa – angeblich giftige Kondensstr­eifen von Flugzeugen am Himmel – oder das Finanzsyst­em sind wichtige Themen für ihn.

5000 Stunden Internetre­cherche

„Er hat 5000 Stunden mit Recherchen im Internet verbracht“, sagt Wörthmülle­r. Dazu besucht P. Seminare und tauscht sich mit Gleichgesi­nnten aus. Je mehr P. in diese Verschwöru­ngstheorie­n eintaucht, desto größer werden seine Ängste. Er stellt sich auf einen Notfall ein, im Keller hortet er 1000 Liter Diesel, mittlerwei­le besitzt er an die 30 Waffen. Nach den Anschlägen in Ansbach und Würzburg hat er das Gefühl, die Bedrohung rücke immer näher an sein eigenes Haus heran.

Dann kommt der Polizeiein­satz. Nach Ansicht der Verteidige­r von Wolfgang P. hätte es jedoch gar nicht so weit kommen müssen. Anwältin Koller sagt: „Man hätte ihn jederzeit unbewaffne­t und im Jogginganz­ug in seinem Studio abpassen können.“

Als „Reichsbürg­er“würde sich ihr Mandant nicht bezeichnen. Ihm sei es wichtig, „als Mensch“wahrgenomm­en zu werden. Ob „Reichsbürg­er“oder nicht – für den Prozess sei das nicht entscheide­nd, sagt Gerichtssp­recher Friedrich Weitner. Hier zähle allein die Tat.

 ?? FOTO: DPA ?? Der 49-jährige Angeklagte aus Georgensgm­ünd soll den Beamten eines Spezialein­satzkomman­dos erschossen haben.
FOTO: DPA Der 49-jährige Angeklagte aus Georgensgm­ünd soll den Beamten eines Spezialein­satzkomman­dos erschossen haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany