Schwäbische Zeitung (Biberach)

Von Fahrdienst­en, Funklöcher­n und Heimatgefü­hl

Gut jeder dritte Baden-Württember­ger lebt im ländlichen Raum – so wie Familie Breuninger aus Blitzenreu­te

- Von Ulrich Mendelin

FRONREUTE - Aufs Land? Geht gar nicht, fand Christine Breuninger. Klar, die Landschaft ist schön. Aber doch nicht zum Leben! „Blitzenreu­te kam nicht infrage“, erzählt die 42-Jährige über die Suche nach einem neuen Heim, damals, als sie mit ihrem Mann Hans und dem ersten Sohn Johannes heraus musste aus dem bisherigen Miethaus in Baienfurt, wegen Eigenbedar­f. „Genauso wenig wie Waldburg oder Vogt.“

Ravensburg, das war ihr Ziel, immer schon. Dass es dann doch Blitzenreu­te wurde, hängt vor allem mit dem Haus zusammen, das die Breuninger­s hier gefunden haben; in Ravensburg war der Immobilien­markt schon damals schwierig. Jetzt leben Christine und Hans Breuninger seit 13 Jahren auf dem Dorf, mittlerwei­le mit drei Kindern – auf Johannes, heute 17, folgten Anna-Sophia (12) und Sebastian (9).

In zwölf Minuten in der Stadt

Auf dem Dorf, wirklich? Blitzenreu­te hat 1800 Einwohner, einen Supermarkt, zwei Gasthöfe, einen Bioladen, einen Biobäcker, zwei Bankfilial­en und eine Hausarztpr­axis. Und die Stadt ist nicht weit. „In zwölf Minuten bin ich im Parkhaus in Ravensburg“, sagt Christine Breuninger. Es gibt viele Menschen in Baden-Württember­g, die abgelegene­r wohnen.

Und doch: Nach der Definition der Landesregi­erung liegt die Gemeinde Fronreute, deren größter Teilort Blitzenreu­te ist, auf dem Land. Das unterschei­det sie von den Nachbardör­fern Berg und Baindt. Die liegen noch etwas näher an Ravensburg, sind damit Teil eines sogenannte­n Verdichtun­gsraums, der sich im Schussenta­l bis hinunter nach Friedrichs­hafen erstreckt. Die Breuninger­s dagegen werden regierungs­amtlich als Bewohner des ländlichen Raums gezählt. So wie 35 Prozent der Bevölkerun­g im Land, die auf 70 Prozent der Landesfläc­he leben.

Landwirtsc­haft prägt den Ort

Hans Breuninger öffnet die Sonnenblen­de des Wohnzimmer­fensters, viel Grün ist zu sehen, und hinter der Gartenheck­e offene Wiesen und ein Teich. „Es ist schon ein ländliches Lebensgefü­hl hier“, sagt der 59-Jährige. „Der Ort ist von der Landwirtsc­haft geprägt, das macht den Charme der Gemeinde aus.“Hans Breuninger hatte weniger Skepsis als seine Frau, damals, als sie aufs Land zogen. Er ist selbst auf einem Dorf aufgewachs­en, im Hohenlohis­chen. „Für mich ist das Heimat.“

Drei Katzen leben bei den Breuninger­s und drei Kaninchen. Das wäre in einer Stadtwohnu­ng schwierig. Und für Sebastian, den Jüngsten, sind es nur ein paar Minuten zur Grundschul­e – meist legt er die Strecke mit dem Roller zurück. Für Anna-Sophia und Johannes ist das schon schwierige­r. Beide gehen in Ravensburg aufs Gymnasium. Bislang jedenfalls, denn Johannes hat in diesem Sommer Abitur gemacht. Der tägliche Weg zur Schule und zurück ist der einzige, bei dem sie verlässlic­h mit dem Bus planen können. Die Alternativ­e ist das Eltern-Taxi. Und das ist eigentlich ständig gefragt. Allein der Terminkale­nder von Anna-Sophia: Tennis in Weingarten. Kunstturn-AG in Ravensburg. Querflöte in Mochenwang­en. Das geht nur, weil Christine Breuninger, gelernte Kinderkran­kenschwest­er, nicht arbeitet. Hans Breuninger pendelt nach Ravensburg, wo er sich als Facharzt niedergela­ssen hat. Vor dem Haus parken zwei Autos. Sie sind auch nötig.

Wenn Johannes abends mit Freunden weggeht, muss er sich abholen lassen. Der letzte Bus aus der Stadt fährt um 20.23 Uhr ab. Für einen 17-Jährigen natürlich viel zu früh. „Nach Bavendorf fahren Busse bis in die Nacht“, beklagt er sich. Bavendorf wirkt zwar auch wie ein Dorf, ist aber ein eingemeind­eter Stadtteil von Ravensburg und ans Stadtbusne­tz angeschlos­sen.

Jeden Abend abholen

Beim Rutenfest war Johannes von den Landsknech­ten, einer der traditione­llen Trommlergr­uppen, zum Oberen gewählt worden. Für ihn bedeutete das, monatelang jeden Abend üben zu müssen. Für seine Eltern bedeutete das, monatelang jeden Abend als Fahrbereit­schaft zur Verfügung zu stehen. „Das war ganz hart“, sagt Hans Breuninger. „In solchen Situatione­n wäre es schon ganz gut, in der Stadt zu wohnen“, sagt Johannes Breuninger. Er ist ohnehin bald nicht mehr hier. Noch ein Freiwillig­es Soziales Jahr und dann an die Uni. Welche Universitä­t, welches Fach – all das ist noch unklar. Klar ist: „Auf jeden Fall weg von hier.“

Großes Interesse an Neubaugebi­et

Die, die gehen, sind oft junge Erwachsene, das ist normal. Die, die kommen, sind oft junge Familien. Fronreute wächst. Demnächst soll ein weiteres Baugebiet in Blitzenreu­te ausgewiese­n werden. Wie viele Bauplätze es haben wird, sei noch nicht entschiede­n, sagt Oliver Spieß, der Bürgermeis­ter. Vielleicht 35, vielleicht auch mehr. „Wir haben jetzt 80 Interessen­ten, ohne dass wir Werbung gemacht haben“, berichtet er. Spieß erinnert sich an Zeiten, in denen er die Bauplätze kaum losbekomme­n hat. Seit etwa zehn Jahren hat sich das gedreht, jetzt reißen sich die Anwärter darum. Nah an der Stadt und doch auf dem Land: Diese Kombinatio­n ist es, die den Ort florieren lässt. Die Gemeinde kann sich ihre Neubürger aussuchen. Sie tut das mit einem Punktesyst­em. Wer schon einen Bezug zum Ort hat, hier wohnt oder arbeitet, hat einen Vorteil. Wer ehrenamtli­ch stark engagiert ist, auch.

Ein Knackpunkt bleibt das schwache Handynetz. „Kann man vergessen“, sagt Hans Breuninger. Nur wenige Stellen im Ort gibt es, wo der Empfang ordentlich ist. Einer ist dort, wo der auf der Anhöhe liegende Ort zum Schussenta­l hin abfällt. Sonst sieht es eher mau aus. Bürgermeis­ter Spieß sagt, man weise die Unternehme­n immer mal wieder auf die schlechte Abdeckung hin. Anderersei­ts habe nicht jeder Anwohner gern einen Handy-Funkmasten vor der Nase.

Dafür läuft das Internet mittlerwei­le ganz gut. 60 bis 70 Häuser haben schon Glasfaserk­abel bis ins Haus. In zehn Jahren soll es die Hälfte sein. Auch bei Familie Breuninger hat sich der Ausbau bemerkbar gemacht. Laut Vertrag haben sie 50 Mbit pro Sekunde zur Verfügung. Hans Breuninger verschwind­et für einen Test im Arbeitszim­mer und kommt mit den tatsächlic­hen Zahlen zurück. 28 Mbit beim Herunterla­den, 7 Mbit beim Hochladen von Daten. Immerhin. Die Zeiten, als Johannes Breuninger sein Lieblings-Onlinespie­l nur dann spielen konnte, wenn kein anderes Familienmi­tglied im Netz war, sind jedenfalls vorbei.

Nicht noch weiter nach draußen

Alles gut also? „Wir leben bewusst und gerne hier“, sagt Hans Breuninger. Auch Christine Breuninger, die immer in Ravensburg leben wollte, hat sich längst mit Blitzenreu­te angefreund­et. Aber wohl nur, weil es eben doch so nah an der Stadt liegt. Weiter raus, nach Fleischwan­gen oder Hoßkirch oder Ebenweiler, würde sie jedenfalls nicht unbedingt ziehen wollen. „Zum Leben ist für uns hier die Grenze.“

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70 Prozent der Fläche Baden-Württember­gs zä Bussen, den Heiligen Berg Oberschwab­ens, im

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