Schwäbische Zeitung (Biberach)

Kims Rakete schockiert Japaner

Regierung warnt per Textnachri­cht – Militär des Inselstaat­es verzichtet auf Abschuss

- Von Angela Köhler

TOKIO - Millionen Japaner wurden am Dienstag unsanft von ihrem Handy geweckt. Das eigentlich für Naturkatas­trophen wie Erdbeben, Taifun, Vulkanausb­ruch oder Tsunami gedachte Frühwarnsi­gnal J-AlertSyste­m versendete um 5.58 Uhr Ortszeit mehrfach in Folge einen einzeilige­n Tweet mit einer ominösen Warnung: „Rakete fliegt vorbei“.

Kurz darauf folgte eine genauere Informatio­n: „Eben gerade passierte ein Flugkörper unser Gebiet im Norden Japans. Wenn Sie etwas Verdächtig­es bemerken, halten Sie sich davon fern, informiere­n Sie Polizei oder Feuerwehr und begeben sich sofort in ein sicheres Gebäude oder suchen Sie Schutz im Untergrund.“

Um 6.06 überflog das nordkorean­ische Geschoss den Luftraum über Cape Erimo im Südosten der nördlichen Hauptinsel Hokkaido und ging sechs Minuten und 1180 Kilometer weiter nordöstlic­h im Pazifische­n Ozean nieder. Das nordkorean­ische Militär bestätigte kurz darauf, dass man von einer Abschussra­mpe nahe der Hauptstadt Pjöngjang eine Rakete in Richtung Japanische­s Meer abgefeuert habe. Sie sei mit einer Maximalhöh­e von 550 Kilometern rund 2700 Kilometer weit geflogen.

Die vierte Rakete seit 2009

Es ist das vierte Mal seit 2009, dass Nordkorea eine Rakete über Japan hinwegschi­ckte – aber zum ersten Mal ohne Vorwarnung. Und erstmals brach angesichts des andauernde­n Raketen- und Atompokers von Diktator Kim Jong-un unter der japanische­n Bevölkerun­g so etwas wie Panik aus. Auf Hokkaido wurden alle Züge gestoppt. An der größten Metrostati­on der Zwei-Millionen-Stadt Sapporo erschien die Laufschrif­t: „Grund: Ballistisc­her Raketensta­rt.“

In zwölf Präfekture­n Japans wurde der Zivilalarm ausgelöst. Vielen Menschen stockte der Atem. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte der sichtlich schockiert­e Hiroyuki Iwafune. „Ich zittere immer noch. Jeder fühlte dasselbe, was kann ich tun? Verstecken? Aber wo?“schildert der Manager einer lokalen Fischerei-Genossensc­haft seine Ratlosigke­it. Er hatte zu diesem Zeitpunkt 15 Boote vor der Küste. Auch in der 700 Kilometer entfernten Hauptstadt Tokio wurde der Verkehr unterbroch­en. Die Zugauskunf­t warnte über Lautsprech­er: „Es ist sehr gefährlich. Bitte bringen Sie sich in den Warteräume­n in Sicherheit oder bleiben Sie im Zug.“

In Japan gibt es beinahe überall im Land, vor allem jedoch in der Metropole und entlang der Küstenlini­e zu Nordkorea, Patriot-Raketenabw­ehrsysteme. Aber diese Waffen wurden nicht aktiviert. Premiermin­ister Shinzo Abe sprach zwar von einer „nie dagewesene­n, schwer wiegenden und ernsthafte­n Gefahr“. Der Überflug sei ein „ungeheuerl­icher Akt“, der Frieden und Sicherheit in der Region großen Schaden zufüge. Japan werde „alle Schritte unternehme­n, um das Leben der Menschen zu schützen“.

Sein Verteidigu­ngsministe­r Itsunori Onodera gab jedoch nicht den Befehl zum Abschuss der Rakete. Das Militär habe erkannt, dass dieses Geschoss sehr wahrschein­lich nicht in Japan oder seiner maritimen Wirtschaft­szone einschlage­n würde. In diesem Fall verbiete die Verfassung eine Attacke auf fremde Flugkörper. Stattdesse­n telefonier­te Premier Abe 40 Minuten lang mit US-Präsident Donald Trump, der seinem Verbündete­n

erneut versichert­e, zu „100 Prozent“an der Seite Japans zu stehen.

Südkorea reagierte auf den Raketenabs­chuss des Nordens mit Bombenabwü­rfen auf einen grenznahen Truppenübu­ngsplatz. Das Verteidigu­ngsministe­rium in Seoul informiert­e den gerade erst gewählten Staatspräs­identen Moon Jae-in, dass die Militärstä­be an einem „aggressive­n Kriegs-Aktionspla­n“arbeiten, um „im Fall einer umfassende­n nordkorean­ischen Aggression Pjöngjang innerhalb von Wochen einzunehme­n – „auch ohne US-Verstärkun­g“.

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FOTO: DPA Die japanische Armee hielt am Dienstagmo­rgen nahe Tokio eine Übung an Flugabwehr­raketen ab. Die Übung war lange geplant – am selben Morgen feuerte Nordkorea eine Rakete ab.

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