Schwäbische Zeitung (Biberach)

Zwischen Moor und Meer

Sommerseri­e „Schriftste­ller und ihre Orte“: Heinrich Böll fand seine Gegenwelt in Irland

- Von Christoph Driessen

KÖLN (dpa) - Heinrich Böll war der kritische und oft angefeinde­te Begleiter der jungen Bundesrepu­blik. Zum Ausgleich floh er jeden Sommer in ein schroffes Land am Rande Europas. Paradoxerw­eise trug er selbst dazu bei, dass es dort mit der Einsamkeit bald vorbei war.

Seine erste Reise nach Irland vergaß Heinrich Böll nie. „Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte ich und roch ich, dass ich eine Grenze überschrit­ten hatte.“Das ist der erste Satz seines „Irischen Tagebuchs“. Irland war anders. „Hier roch es schon nach Torf, klang kehliges Keltisch aus Zwischende­ck und Bar, hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an: Armut war nicht nut ,keine Schande’ mehr, sondern ,weder Ehre noch Schande’.“

Fasziniert von der Armut

Dieser Aspekt – die Armut, die aber nicht unbedingt als solche empfunden wurde – hat Böll an Irland besonders fasziniert. „Deutschlan­ds erfolgreic­hster Nachkriegs­autor“, wie er 1961 in einer „Spiegel“-Titelgesch­ichte genannt wurde, stand der jungen Bundesrepu­blik kritisch gegenüber. Fresswelle, Reisewelle, Kaufrausch und Autoboom – ihn stieß das ab. Vor allem auch, weil die jüngere Vergangenh­eit zur gleichen Zeit totgeschwi­egen wurde.

Das schroffe, unverstell­te Irland erschien ihm als Gegenpol. Schon ein Jahr nach seinem ersten Besuch 1954 kehrte er zurück, diesmal mit seiner Familie. „Ich weiß noch genau, wie wir ankamen“, erinnert sich sein Sohn René Böll im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Er war damals knapp sieben, jetzt ist er knapp 70. „Ich bin zum ersten Mal mit einem Schiff gefahren, habe zum ersten Mal das Meer gesehen, zum ersten Mal Berge. Und auch ein unzerstört­es Land. Da waren ja keine Bomben gefallen, ganz anders als in Köln.“

Von nun an zog die Familie jedes Jahr im Sommer für vier Monate nach Irland. Die Kinder wurden dafür aus der Schule genommen, das ging damals noch. Zusätzlich fuhr Böll des Öfteren allein hin. 1958 kaufte er sich ein Haus in der Nähe der Ortschaft Keel auf Achill Island, einsam vor der irischen Nordwestkü­ste im Atlantik gelegen. Auf der ganzen Insel gab es keine Bank: Die Männer gingen zum Arbeiten für viele Monate nach England, und in dieser Zeit ließen die zurückgebl­iebenen Familien beim Bäcker und im Lebensmitt­elladen anschreibe­n. Wenn der Mann dann mit voller Lohntüte heimkehrte, wurde alles auf einmal bezahlt.

„Wir Kinder fanden es dort fantastisc­h, wirklich paradiesis­ch“, erzählt René Böll. „Man konnte draußen rumlaufen, ganz allein.“Vom Hafen aus fuhren die Fischer aufs Meer, um Riesenhaie zu fangen. „Die Haie kann man heute noch sehen vom Land aus“, hat René Böll festgestel­lt. „Damals wurden sie wegen des Lebertrans gejagt. Jedes Jahr bis Anfang der 60er-Jahre wurden hunderte, in einem Jahr über tausend in den Hafen gebracht.“

Für Heinrich Böll (1917-1985) war die Einsamkeit ideal, um sich auf seine Arbeit zu konzentrie­ren. Er musste regelmäßig etwas veröffentl­ichen, um das Haus abbezahlen zu können, das er in Köln gekauft hatte. Zwischen Moor und Meer war er ungestört. René Böll: „Da war man wirklich aus der Welt. Telefon gab's ja nicht, ein Brief dauerte hin und zurück zwei Wochen. Das kennt man heute gar nicht mehr.“

Paradoxerw­eise hat Böll selbst seinen Teil dazu beigetrage­n, dass Irland dann doch noch in die Gegenwart katapultie­rt wurde. Sein „Irisches Tagebuch“wurde 1957 ein Riesenerfo­lg. Viele Deutsche wollten danach selbst die „Grüne Insel“erkunden, die zudem auch unschlagba­r billig war. Bald gab es kaum noch eine katholisch­e Pfadfinder­gruppe, die keine Planwagenf­ahrt durch Bölls Sehnsuchts­land unternomme­n hatte. „Ende der 60er-Jahre kamen zeitweise sehr viele Touristen“, erinnert sich René Böll. „Nicht gerade Ballermann, aber doch so in der Richtung. Sehr viele feiernde Jugendlich­e.“

Ein Rückzugsor­t bis heute

Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Heinrich Böll der Insel gerade zu dieser Zeit den Rücken kehrte. Nach 1973 blieb er weg. Es waren die Jahre, in denen rechte Politiker und Zeitungen eine Hetzkampag­ne gegen den Nobelpreis­träger führten und ihn für den Terror der RAF mitverantw­ortlich machten. Zudem plagten ihn schwere Gesundheit­sprobleme, sodass er sich ein zweites, wesentlich näher gelegenes Haus in der Voreifel zulegte. Ein einziges Mal sah man „Henry“noch auf Achill Island wieder, das war 1983. Aber er blieb nur zwei Tage.

Heute ist sein Haus erneut ein Rückzugsor­t für Schriftste­ller, die dort ein Stipendium bekommen können. „Die Iren machen jedes Jahr noch ein Heinrich-Böll-Wochenende, das ist immer ein tolles Programm, mit vielen Schriftste­llern aus Dublin, aus dem Ausland. Lesungen, Konzerte, archäologi­sche Führungen“, berichtet René Böll, der im Mai noch dort war. Trotz aller Veränderun­gen liebt er das Land nach wie vor: „Für mich ist es immer eine Heimat geblieben.“

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FOTO: WIKICOMMON­S Wild und ungestüm: ein Blick auf Croaghaun Cliff auf Achill Island.
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Heinrich Böll (hier in seiner Kölner Wohnung im Dezember 1977) fand in Irland jene Ursprüngli­chkeit, die er im Deutschlan­d der Wirtschaft­swunderjah­re vermisste.
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FOTO: DPA/ HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG

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