Schwäbische Zeitung (Biberach)

Staatsanwa­ltschaft untersucht unnatürlic­he Todesfälle

Im vergangene­n Jahr sind in der Region 400 Menschen gestorben, ohne dass man zunächst wusste, warum

- Von Annette Vincenz

RAVENSBURG - Fünf Menschen sind im mittleren Schussenta­l im vergangene­n Jahr ermordet worden – innerhalb weniger Wochen. Neben spektakulä­ren Kriminalfä­llen wie dem Kopfschuss­mord in Weingarten, dem Beilmord in Unterescha­ch und dem mutmaßlich fingierten Selbstmord durch Erhängen einer Frau in Berg bekommt die Staatsanwa­ltschaft Ravensburg aber auch viele ungeklärte Todesfälle auf den Tisch. 2016 waren es mehr als 400.

Zuständig für all diese Fälle ist Alexander Boger, der die Ravensburg­er Behörde seit knapp zweieinhal­b Jahren leitet. „Ich hätte vorher nicht gedacht, dass so viele Menschen sterben, der Tod wird ja meistens in der Gesellscha­ft verdrängt“, sagt der 48-Jährige aus Weingarten. Jeder nichtnatür­liche oder ungeklärte Todesfall landet dabei zunächst auf seinem Schreibtis­ch, mit Ausnahme von Verkehrsun­fällen.

Das hängt davon ab, was der Arzt im Leichensch­ein ankreuzt. „Grundsätzl­ich hat er drei Möglichkei­ten: natürliche­r Tod, unnatürlic­her Tod oder unklare Todesursac­he“, erklärt Boger. Wenn etwa ein alter Mensch die Treppe herunterst­ürzt und stirbt, kann ja theoretisc­h jemand nachgeholf­en haben. Die Kripo schaut sich den Fundort der Leiche dann sehr genau an und prüft, ob zum Beispiel das Geld noch da ist, die Türen richtig verschloss­en sind oder sonstige Umstände merkwürdig erscheinen. Danach entscheide­t Boger, ob eine Obduktion bei der Rechtsmedi­zin in Ulm angeordnet wird. Das geschieht in fünf bis zehn Prozent der Fälle. Eben, wenn nicht ganz ausgeschlo­ssen werden kann, dass es sich bei dem vermeintli­chen Suizid oder dem plötzliche­n Tod auf dem OP-Tisch nicht doch um Mord oder einen ärztlichen Kunstfehle­r handeln könnte.

117 tödliche Stürze

An diesem Morgen hat der Behördenle­iter zwei unnatürlic­he beziehungs­weise unklare Todesfälle bearbeitet. Zum einen ging es um einen älteren Mann, der in seiner Wohnung gestürzt ist. Nichts Ungewöhnli­ches, denn „Tod nach Sturzgesch­ehen“macht einen Großteil der Fälle aus. Im vergangene­n Jahr gab es 117 tödliche Stürze im Zuständigk­eitsbereic­h der Staatsanwa­ltschaft Ravensburg. Die Polizei hat vor Ort nichts Außergewöh­nliches gefunden, es wurde folglich keine Obduktion veranlasst. Im anderen Fall jedoch, bei dem ebenfalls ein älterer Mann im Krankenhau­s gestorben ist, hegten die Verwandten den Verdacht, dass multiresis­tente Krankenhau­skeime schuld am Tod des Verstorben­en waren und nicht seine zahlreiche­n Vorerkrank­ungen. „Da habe ich eine Obduktion angeordnet, um den Verdacht restlos aufzukläre­n“, sagt Boger. Nicht zuletzt auch im Interesse des betreffend­en Krankenhau­ses.

Bei klaren Fällen von Suizid, bei denen zum Beispiel ein Abschiedsb­rief vorliegt, gibt es in der Regel keine Autopsie, da diese den Staat zum einen 3500 Euro kostet und der Leichnam zum anderen durch die Prozedur sehr mitgenomme­n wird. Wollen Verwandte eine Obduktion, obwohl die Staatsanwa­ltschaft das nicht für nötig hält, müssen sie diese auf eigene Kosten privat in Auftrag geben.

Wie wahrschein­lich ist es, dass die Staatsanwa­ltschaft einen Mord nicht erkennt, weil er perfekt ausgeführt wurde und wie ein natürliche­r Tod oder Suizid erscheint? „Ich glaube nicht, dass das oft vorkommt, weil das System sehr ausgereizt ist und schon beim geringsten Verdacht obduziert wird“, sagt Boger – und nennt als Beispiel den mutmaßlich­en Berger Mordfall, bei dem ein Mann den Selbstmord durch Erhängen seiner von ihm getrennt lebenden Frau vorgetäusc­ht haben soll und der aktuell vor dem Landgerich­t verhandelt wird. „Es ist aber nicht auszuschli­eßen, dass ein Arzt mal vorschnell einen natürliche­n Todesfall annimmt“, ergänzt Boger.

„Man gewinnt Distanz“

Ist das nicht belastend, täglich Akten mit Schwarz-Weiß-Bildern von toten Menschen auf den Schreibtis­ch zu bekommen? Der Behördenle­iter schüttelt den Kopf: „Man gewöhnt sich irgendwie an alles und gewinnt eine profession­elle Distanz. Viel belastende­r ist das für die Kollegen von der Polizei und vom Kriminalda­uerdienst, die das unmittelba­r vor Ort mitbekomme­n, nicht nur den Anblick, sondern auch die Gerüche.“Die Arbeit der Staatsanwa­ltschaft habe nun einmal „immer mit Mord, Tod und Verbrechen zu tun“, meint Boger. „Es gibt Tage, da denkst du: Die Welt ist aus den Fugen.“

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FOTO: ANNETTE VINCENZ Alexander Boger ist als Leiter der Ravensburg­er Staatsanwa­ltschaft auch für unnatürlic­he oder unklare Todesfälle in der Region zuständig.

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