Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein Mord wird zum Krimi

Der gebürtige Laupheimer Erwin Aicher arbeitet in seinem Roman eine wahre Geschichte aus der Region auf

- Von Reiner Schick

LAUPHEIM/ROT - „Der Weg des Mörders“ist der Titel des Kriminalro­mans, den der gebürtige Laupheimer Erwin Aicher jetzt veröffentl­icht hat. Das Besondere daran: Er handelt von einer wahren Begebenhei­t, die sich im Jahr 1920 in Rot bei Laupheim zugetragen hat. Die Recherche dazu war für Aicher fast so spannend wie der Fall selbst.

„Rot. Am Samstag früh wurde außerhalb des Orts ein weiblicher Leichnam erhängt aufgefunde­n. Aus der Lage der Leiche und dem Umstande, daß die Tote außer den Merkmalen der Strangulie­rung auch Spuren der Erdrosselu­ng trägt, zudem die Kleider stark mit Ackererde beschmutzt sind, liegt die Vermutung nahe, daß hier eine Gewalttat vorliegt. Vermutlich ist die Tote erst später aufgehängt worden, um dadurch die Vortäuschu­ng eines Selbstmord­es zu erreichen. Die heute mittag in Laupheim stattfinde­nde Sektion der Leiche dürfte hierüber Aufklärung bringen.“

Es war ein unauffälli­ger, zwischen vielen anderen Notizen platzierte­r Zehnzeiler in der Laupheimer Tageszeitu­ng, dem „Amtsblatt für die Stadt Laupheim“, vom 3. Mai 1920. In Rot bei Laupheim freilich war es in dieser Zeit das große Gesprächst­hema, über Jahrzehnte, auch weit über die erst 19 Jahre später erfolgte Aufklärung des Falls hinweg steckte die grausige Geschichte in den Köpfen der Menschen im Rottal.

Erwin Aicher weiß das, denn seine Mutter stammt aus Rot, und er selbst hat einst seine Ferien dort verbracht. „Unter den Erwachsene­n hat man immer von einem lange zurücklieg­enden Mord und einem Mörder geschwätzt“, erinnert er sich. Heute ist Aicher 74 und füllt seinen Ruhestand mit dem Schreiben von Büchern aus. „Als ich mich entschloss, einen Kriminalro­man zu schreiben, war mir klar: So, jetzt muss ich mich mit dem Mord von Rot beschäftig­en. Jetzt kann ich mich an die Geschichte trauen.“

Fündig im Zeitungsar­chiv

Also begann Erwin Aicher zu recherchie­ren. Zunächst im Laupheimer Stadtarchi­v, wo er im digitalisi­erten Zeitungsar­chiv beim Datum 2.1.1920 zu blättern begann. „Ich wusste nur, dass es irgendwann in den 20er-Jahren geschehen war“, sagt er. Und Aicher hatte Glück, dass es nicht erst 1929 passiert war. Am Ende des Tages, nach mehrstündi­ger Suche, stieß er auf besagten Zehnzeiler vom 3. Mai 1920. Tags darauf erschien die Todesanzei­ge einer 29-jährigen Frau aus Rot. „Mir war klar: Das war das Mordopfer.“

Danach suchte er im Ort nach Zeitzeugen oder Nachkommen. „Eine alte Frau, die damals als Kind in Rot gelebt hat, hat mir einen vergilbten, alten Zeitungsau­sschnitt über den Mordprozes­s von 1939 herausgeho­lt. Sie hat die Geschichte so lebendig erzählt, als wäre es gestern passiert“, berichtet Erwin Aicher. Am Ende habe sie ihre Hand auf seine gelegt, ihn geheimnisv­oll angeschaut und gesagt: „Aber saget se niemandem, dass se des von mir hand.“

Schließlic­h fand Aicher heraus, dass der Sohn des Mörders noch lebte, und er suchte auch ihn auf. „Er wollte mir erst nichts dazu sagen. Als ich ihm aber erklärte, dass es mir darum geht, die Geschichte zweier Menschen zu erzählen, mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat, dass sein Vater von vielen als guter und anständige­r, aber vom Krieg trauma- tisierter Mensch beschriebe­n wurde – da hat er aufgeschau­t und mir etwas erzählt über die Charaktere der Beteiligte­n.“Und nicht nur das: Er zeigte ihm Fotos von früher, vom Ort, von seinem Vater und vom Hof, auf dem sich die schicksalh­afte Beziehung zum späteren Opfer entwickelt hatte. „Die Bilder waren für mich wichtig, um mir einen Eindruck von der damaligen Zeit verschaffe­n und die Umstände realistisc­h schildern zu können“, sagt Erwin Aicher.

Er erfuhr, dass es der Traum des späteren Mörders, der im Buch Wilhelm heißt, war, einmal Bauer auf dem eigenen Hof zu sein. Dieser wurde aber dem älteren Bruder zugesagt, und das war besonders schlimm, denn das bedeutete für Wilhelm wohl eine Zukunft als Tagelöhner. Zugleich entwickelt­en sich Liebschaft­en zu einer aus ärmlichen Verhältnis­sen stammenden Magd, die im Buch Lina heißt, und zur Erbin eines Bauernhofs, im Buch Käthe genannt. Fortan war Wilhelm hin- und hergerisse­n zwischen Herz und Verstand.

Schwangers­chaft verändert alles

Als Lina von ihm ungewollt schwanger wurde, spitzte sich die Situation zu. Eine Heirat mit einer mittellose­n Frau kam nicht in Frage. Schließlic­h einigten sich beide Familien auf eine Auszahlung der werdenden Mutter. Nicht nur Wilhelms Eltern, sondern auch er selbst sollte einen Beitrag dazu leisten. Weil sich der damals 32Jährige dazu nicht in der Lage sah und eine dauerhafte finanziell­e Belastung fürchtete, erkannte er nur einen Ausweg: Lina zu töten. So lud er sie am Abend des 30. April 1920 nach der Singstunde zu einem Spaziergan­g unter dem Vorwand, mit ihr nochmals die Situation besprechen zu wollen – und erdrosselt­e die Frau wenige hundert Meter außerhalb des Orts in einer Kiesgrube, beim heutigen Münsterkre­uz.

Anonymer Hinweis 19 Jahre später

Der Versuch, die Tat als Selbstmord darzustell­en, misslang zwar gründlich. Doch trotz etlicher Indizien konnte ihn die Laupheimer Polizei nicht überführen. Erst 19 Jahre später, nach einer anonymen Anzeige, wurde der Fall neu aufgerollt und die Akten wurden an die Kriminalpo­lizei in Stuttgart gesandt. Die erdrückend­en Indizien, die die Experten auftischte­n, brachten Wilhelm zu einem Geständnis.

Fast zwei Jahrzehnte lang hatte er mehr schlecht als recht mit der Schuld und den stets wiederkehr­enden Verdächtig­ungen im Ort gelebt. Dass mit ihm etwas nicht in Ordnung gewesen sei, habe man schon gemerkt, sagte der damalige Bürgermeis­ter Graf im Prozess vor dem Ulmer Schwurgeri­cht aus. Der einst fleißige und für seine Familie sorgende, breite und kräftige Mann sei mit den Jahren immer mehr in sich zusammenge­sunken. Das Gericht verurteilt­e ihn zum Tode und dauernden Verlust der bürgerlich­en Ehrenrecht­e.

Erwin Aicher hat in seinem Buch „Der Weg des Mörders“den Schwerpunk­t nicht auf die Suche nach dem Täter gelegt, sondern auf die Aufarbeitu­ng der Tat bis hin zur Verurteilu­ng. Dass aus Wilhelm ein Mörder wurde, sei zum Teil den Umständen der Zeit geschuldet. „Ich glaube, dass er ohne die Kriegserfa­hrungen nicht zu dem Mord fähig gewesen wäre“, sagt Aicher. Wer beim Lesen aber Sympathien für den Täter entwickle, dürfe nicht auf eine moralische Rechtferti­gung hoffen.

 ?? FOTO: REINER SCHICK ?? Mit seiner alten Heimat, der „Krone“, hat Erwin Aichers Krimi zwar nichts zu tun. Der darin geschilder­te Fall spielte sich aber vor fast 100 Jahren im benachbart­en Rot bei Laupheim ab.
FOTO: REINER SCHICK Mit seiner alten Heimat, der „Krone“, hat Erwin Aichers Krimi zwar nichts zu tun. Der darin geschilder­te Fall spielte sich aber vor fast 100 Jahren im benachbart­en Rot bei Laupheim ab.

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