Schwäbische Zeitung (Biberach)
Britische Wirtschaft wehrt sich gegen harten Brexit
Mays Einwanderungspläne sorgen für Entsetzen – Brexit-Gesetz soll heute erste Hürde im Parlament nehmen
LONDON - Wirtschaftsverbände und Unternehmen in Großbritannien wenden sich von den Brexit-Plänen der konservativen Regierung ab. Mit ungewohnter Vehemenz kritisierten sie die bekanntgewordenen Pläne zur Reduzierung der Einwanderung aus der EU. „Für die Fremdenverkehrsbranche wäre das katastrophal“, glaubt Ufi Ibrahim von der Lobbygruppe BHA. Abgesandte von Premierministerin Theresa May blitzen offenbar bei Dutzenden wichtigen Firmen mit dem Begehren ab, diese in einem offenen Brief zu unterstützen. Hingegen bereitete der Industrieverband CBI am Donnerstag ein öffentliches Statement vor, das die Brexit-Verhandler zur Eile drängt: „Es wird Zeit, der Wirtschaft Priorität einzuräumen.“
Im Vorfeld der Volksabstimmung 2016 befürwortete zwar eine überwältigende Mehrheit von Unternehmern und Fachverbänden den EUVerbleib. Aus Angst vor lautstarken EU-Feinden, teilweise eingeschüchtert von Boykottdrohungen hielten sie sich aber mit Äußerungen zurück. Premier May erklärte nach dem Brexit-Votum international tätige Wissenschaftler und Geschäftsleute zu Bürgern zweiter Klasse („Citizens of nowhere“) und sagte Gehaltsexzessen der Bosse den Kampf an.
Schlimme Befürchtungen
Erst nachdem die Konservativen bei der vorgezogenen Unterhauswahl ihre Mehrheit verloren hatten, suchte die Minderheitsregierung wieder den Dialog mit Wirtschaftsvertretern. Äußerungen wichtiger Minister wie Philip Hammond (Finanzen) und dem Brexit-Verantwortlichen David Davis ließen zuletzt darauf schließen, die Regierung wolle ihren harten Brexit-Kurs samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion ändern oder durch eine Übergangsphase verlangsamen.
Das dem „Guardian“zugespielte 82-seitige Einwanderungspapier weckt in den betroffenen Branchen hingegen schlimmste Befürchtungen. Der Bauernverband warnte vor „erheblichen Behinderungen in der gesamten Nahrungskette“. Die Hotellobby BHA wies darauf hin, ihre Mitgliedsfirmen bräuchten mindestens 60 000 EU-Bürger pro Jahr, um offene Stellen zu füllen. Bei einer Arbeitslosigkeit von derzeit 4,4 Prozent und der Rekordbeschäftigungsquote von 75,1 Prozent könne diese Lücke kaum mit einheimischen Arbeitskräften gefüllt werden. „Selbst wenn wir jeden Arbeitslosen einstellen, haben wir nicht genug“, glaubt Peter Gowers von der Billighotelkette Travelodge. Zudem gelten junge Briten im Vergleich zu Altersgenossen aus Polen, Bulgarien oder Lettland als im Durchschnitt schlechter ausgebildet und demotiviert.
Auch am anderen Ende des Arbeitsmarktes befürchten Experten negative Auswirkungen der restriktiveren Einwanderungspolitik. Wissenschaft und Forschung seien nicht nur auf Forschungsgelder durch die Regierung angewiesen, gibt ChemieNobelpreisträger Venki Ramakrishnan, Präsident der weltberühmten Royal Society, zu bedenken: „Mobilität ist genauso wichtig wie Förderung.“In der für die Volkswirtschaft eminenten wichtigen Pharmaforschung, aber auch an vielen Hochschulfakultäten liegt der Anteil von EU-Bürgern am Fachpersonal bei bis zu 18 Prozent. Premier May verteidigt ihre harte Linie bei der Einwanderung: Der unbegrenzte Zulauf billiger Arbeitskräfte aus Europa sei „besonders für Niedrigverdiener“problematisch. Dieses Argument halten Ökonomen wie Paul Johnson vom Institut für Fiskalstudien für falsch, soweit es den Arbeitsmarkt betrifft: „Anders als bei einem Fußballteam gibt es in der Volkswirtschaft keine festgelegte Anzahl von Arbeitsplätzen.“Einwanderung bedeute nicht mehr Arbeitslosigkeit für die Einheimischen, sei vielmehr ein Zeichen von insgesamt mehr Jobs.
Mehr Jobs, mehr Zuwanderung
Tatsächlich sind auf der Insel beinahe zwei Millionen mehr Menschen in Lohn und Brot als vor dem FinanzCrash 2008. Freilich erzeugt die Zuwanderung Druck auf den Wohnungsmarkt, die Gesundheitsversorgung und Schulplätze, was von Regierungen unterschiedlicher Couleur lange ignoriert wurde.
Rechtzeitig zur zweiten Lesung des EU-Austrittsgesetzes setzten am Donnerstag die EU-Feinde in der konservativen Fraktion die Regierung unter Druck. Mehrere Dutzend Mitglieder der harmlos klingenden Europäischen Forschungsgruppe (ERG) warnen vor einem Kompromiss. Keinesfalls dürfe die Insel für eine Übergangsphase in Binnenmarkt und Zollunion bleiben, weitere Zahlungen ins EU-Budget seien undenkbar. „Wenn wir 2019 austreten“, heißt es in einem offenen Brief, „müssen wir wirklich draußen sein.“