Schwäbische Zeitung (Biberach)
Kirchenmusiktag mit 2200 Sängern
Zum Diözesankirchenmusiktag kommen 2200 Sänger nach Leutkirch, Ellwangen und Stuttgart
LEUTKIRCH/ELLWANGEN/STUTTGART (kawa) - Chorsänger und -sängerinnen aus der Diözese Rottenburg/Stuttgart treffen sich am Samstag zum Kirchenmusiktag. Erstmals wird dieser Chortag an drei verschiedenen Orten ausgetragen, und zwar in Leutkirch, Ellwangen und Stuttgart. Walter Hirt, Kirchenmusikdirektor der Diözese, erzählt im Interview von den Problemen bei der Nachwuchsförderung, engagierten Chorleitern – und kleinen Tricks bei der wöchentlichen Probe.
LEUTKIRCH - An drei verschiedenen Orten der Diözese Rottenburg-Stuttgart treffen sich am Samstag mehr als 2200 Sängerinnen und Sänger katholischer Kirchenchöre. Walter Hirt (57), Kirchenmusikdirektor der Diözese, und Franz Günthner (49), der als Regionalkantor für die Bezirke Allgäu, Oberschwaben und Bodensee sowie die Kirchenmusik in Leutkirch verantwortlich ist, haben sich mit Katja Waizenegger unterhalten – über das Geheimnis, einen Chor auch in Zeiten rückläufiger Kirchenbesucher erfolgreich zu führen. Darüber, wie Nachmittagsunterricht und G 8 dazu führen, dass immer weniger Kinder Zeit für das Singen im Chor finden. Und sie bemühen auch die Statistik, die besagt, dass die emotionale Kraft der Musik oft mehr Besucher in die Kirche bringt als das gesprochene Wort.
Für immer weniger Menschen ist der sonntägliche Kirchgang fester Bestandteil ihres Lebens. Sind auch die Kirchenchöre vom Mitgliederschwund betroffen?
Hirt: Die Zahlen gehen überall zurück, auch im Chorwesen. Das ist eine Entwicklung, welche die Kirche als Ganzes betrifft. Wenn Sie an die Zeit vor 30, 40 Jahren zurückdenken, dann hatten wir starke Verbände in den Kirchengemeinden: Kolping, KAB, KJG, Landjugend und so weiter. Diese großen Gruppen haben das kirchliche Leben geprägt. Aber diese Zeiten sind vorbei. Dass es aber trotz dieser Entwicklung immer noch viele Chorsängerinnen und -sänger gibt, die an Sonntagen und Hochfesten nicht wegfahren, sondern Gottesdienste gestalten, ist einfach stark.
Wie sieht die Zukunft aus?
Hirt: Auf jeden Fall vielfältiger. Lange Zeit gab es in einer Kirchengemeinde in der Regel einen einzigen Chor, den klassischen Kirchenchor. Nur manche Gemeinden hatten noch einen Kinderchor. Heute stehen wir vor einer Pluralität in der Chorlandschaft. Chorfusionen nehmen zu, auch auf der Ebene der Ökumene. Oder aber Fusionen mit weltlichen Chören. Kleine Ensembles werden gegründet, Kammerchöre, die ganz gezielt auf ein Projekt hin proben. Immer wieder wird in einem Chor aus der Vierstimmigkeit mangels Männerstimmen in die Dreistimmigkeit gewechselt. Oder man bildet gleich einen reinen Frauenchor. Aber man muss auch erwähnen, dass manche Kirchenchöre Zulauf haben und einen guten Altersdurchschnitt.
Was machen diese Chöre anders?
Hirt: Der Erfolg eines Chores hängt in hohem Maß vom Chorleiter ab. Ich denke da an eine engagierte Chorleiterin, die nebenberuflich einen Dorfchor leitet – das meine ich gar nicht despektierlich – und sie hat Zulauf! Im Verhältnis zur Größe des Ortes ist es ein großer, lebendiger Chor. Diese Chorleiterin besucht seit zwanzig Jahren die kirchenmusikalischen Werkwochen, bildet sich fort, bringt neue Ideen nach Hause. Dort, wo Chorleiter wach und engagiert bleiben, immer wieder nach neuer Literatur Ausschau halten, selbst in Chören mitsingen, um bei den hauptamtlichen Kirchenmusikern Anregungen zu holen – dort sind die Chöre meistens in Schuss.
Wie sieht es bei den Kindern und Jugendlichen aus? Ist Singen im Chor noch angesagt?
Günthner: Man muss sich im Kinderund Jugendchorbereich schon etwas einfallen lassen, um mit all den anderen Gruppierungen, zum Beispiel aus dem sportlichen Bereich, konkurrieren zu können. Man muss die
Kinder über das Musikalische hinaus an den Chor binden. Nicht ohne Grund gibt es in der Diözese alle drei Jahre auch einen Kinderchortag. Letztes Jahr kamen 1000 Kinder nach Reute. Nächstes Jahr gibt es in Ravensburg den Jugendchortag der Diözese. Diese gemeinsamen Events binden Kinder und Jugendliche an einen Chor.
Was würden Sie sich wünschen, von Schulen, Eltern, der Politik?
Günthner: G 8 hat eine ganz verheerende Wirkung auf alle Vereinsgruppierungen, auch in der Chormusik. Die Kinder haben viel Nachmittagsunterricht und kaum noch Zeit für Aktivitäten außerhalb der Schule. Dabei weiß man doch, dass diese Erfahrungen außerhalb der Schule die Kindheit erst farbig und lebendig machen! Und dann sind die Schüler auch noch ein Jahr früher weg. Ich finde es jammerschade, dass die Kulturpolitik in Baden-Württemberg, anders als in Bayern, nach wie vor an der G-8-Politik festhält.
Hirt: Zudem fehlt ein verbindlicher freier Nachmittag. Für Chorleiter im Jugendbereich ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, ein Zeitfenster zu finden, in dem alle zur Probe kommen können – egal, auf welche Schule sie gehen. Ich kämpfe in Stuttgart seit Jahren um diesen verbindlichen freien Nachmittag, den es früher mittwochs gab.
Ist die Musik im Gottesdienst wichtiger als das gesprochene Wort?
Hirt: Man sollte die gesprochenen und gesungenen Elemente nicht gegeneinander ausspielen. Es gibt aber tatsächlich Situationen, in denen sich Geistliche wegen der Wirkmacht der Musik in eine Konkurrenz gestellt sehen. Musik wirkt ganzheitlich auf die menschliche Seele, egal, ob wir es wollen oder nicht. Die Statistik spricht da eine ganz eindeutige Sprache. Dort, wo die Kirchenmusik blüht, ist der Gottesdienstbesuch deutlich höher als in anderen Gemeinden. Das heißt für uns Kirchenmusiker aber auch, dass wir immer im Dialog bleiben müssen mit der Theologie, damit beide Potenziale sich verstärken.
Wie geht ein Chorleiter damit um, wenn die Ambitionen eines Sängers da sind, das Können aber eher weniger?
Hirt: Als Chorleiter werden Sie immer wieder mit diesem Problem konfrontiert. Sie singen beispielsweise mit Ihrem Chor das BrahmsRequiem. Im Sopran kommt da das zweigestrichene B vor. Jetzt haben Sie drei in der letzten Reihe, die singen ein A. Man übt die Stelle wieder und wieder, aber sie singen einfach kein B. Und irgendwann sagen diese Sängerinnen: „Also, das B kriegen wir nicht mehr. Wir singen halt ein A.“Da müssen Sie reagieren, da haben Sie keine Wahl. Entweder Sie sagen: Gut dieses Werk kann der Chor nicht mehr singen. Damit setzen Sie sich aber der Gefahr aus, dass diejenigen, die das hohe B singen können, in einen anderen Chor abwandern. Günthner: Eine Möglichkeit ist auch, dass der Sänger oder die Sängerin in eine tiefere Stimmlage wechselt.
Hirt: Ja, aber unglücklich ist jene Lösung, die ich beobachte, wenn der Chorleiter einem Niveauverlust vorgreift. Er wählt zu einfache Literatur aus in der Hoffnung: Das bekommt mein Chor, der in die Jahre gekommen ist, noch hin. Dabei vernachlässigt er den Grundsatz, dass man einen Chor nur fördern kann, wenn man ihn fordert.
Als Dirigent weiß man ja recht genau, welche Sänger nicht ganz richtigliegen. Wie reagiert man darauf ?
Hirt: Also, wenn elf Soprane – äh, warum sage ich eigentlich immer Soprane? Also, wenn sieben Tenöre richtig singen, und einer singt daneben, dann muss ich dem einen irgendwie sagen, dass er gemeint ist. Ich kann das aber nicht namentlich machen. Falsch wäre aber auch, wenn ich sagen würde: Der Tenor singt falsch. Weil ja nicht der ganze Tenor falsch singt.
„Musik wirkt ganzheitlich auf die menschliche Seele.“Walter Hirt, Kirchenmusikdirektor der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Und wie machen Sie das dann?
Hirt: Ich sage, dass es im Tenor im Takt fünf auf Schlag zwei eine Stelle gibt, die noch nicht richtig sitzt. Und dann schaue ich den entsprechenden Sänger g’schwind eine Sekunde lang an. Dann versteht er, dass er gemeint ist, fühlt sich aber nicht öffentlich brüskiert.
Wie diktatorisch muss ein Chor geführt werden? Wie viel Demokratie darf sein?
Günthner: Ein weiser Mensch hat den Satz geprägt: Ein Chor ist eine Demokratur. Ich finde, das stimmt. Es ist wichtig, dass ein Chor demokratisch aufgestellt ist, dass Funktionen wahrgenommen werden. Das Chorleben muss auch ohne Leiter funktionieren. Aber musikalisch gesehen muss der Chorleiter die absolute Kompetenz haben. Er weiß, wo er den Chor haben möchte, musikalisch trifft er die Entscheidungen.
Wie muss der Samstag ablaufen, damit er für Sie ein Erfolg ist?
Hirt: Ich habe nach dem letzten Kirchenmusiktag vor fünf Jahren in Weingarten eine ältere Chorsängerin, die am Ende des Tages völlig geplättet an ihrem Rollator hing, gefragt: Warum tun Sie sich das an? Zwei Stunden Busfahrt, drei Stunden auf einem Papphocker sitzen oder stundenlang in der Kirche stehen? Ihre Antwort: „Ich wollte wieder einmal hören, was Kirche ist.“Wir sagen ja immer, Kirche sind hierarchische Strukturen und Austrittszahlen. Aber Kirche ist in erster Linie Gemeinschaft. Wenn 2200 Leute am Samstagabend nach Hause fahren und das Gefühl haben, mit unserer Kirche ist es noch nicht zu Ende, dann war der Tag ein Erfolg.