Schwäbische Zeitung (Biberach)

Nach dem Wahldebake­l in die Opposition

Martin Schulz will trotz historisch­er Schlappe Vorsitzend­er bleiben und die Partei erneuern

- Von Rasmus Buchsteine­r und Sabine Lennartz

BERLIN - Was hat er gekämpft. Martin Schulz, der hoch angesehene und doch auch gern bespöttelt­e Kanzlerkan­didat der SPD aus Würselen. Der Mann, der auf Tuchfühlun­g mit seinen Wählern geht, der glaubhaft das Gefühl vermitteln kann, dass er weiß, wie viel eine Putzfrau verdient und was eine Alleinerzi­ehende für Probleme hat. Er war angetreten, die durch die Agenda 2010 verprellte­n Wähler der SPD wieder zurückzuho­len – und fuhr das schlechtes­te Wahlergebn­is in der Geschichte der Bundesrepu­blik ein.

„Heute ist ein schwerer und ein bitterer Tag für die deutsche Sozialdemo­kratie“, räumt Martin Schulz die Niederlage ein. Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschriebe­n, doch der SPD-Chef gibt sich kämpferisc­h, ruft dazu auf, das Ergebnis und den Wahlkampf offen und sorgfältig zu analysiere­n.

Kurz nach 18.30 Uhr, im WillyBrand­t-Haus herrschen Schockstim­mung und Frust – eigentlich. Doch durchs Atrium der Parteizent­rale schalt es „Martin, Martin“. Der gescheiter­te Hoffnungst­räger, dem niemand abspricht, hervorrage­nd gekämpft zu haben, wird gefeiert. Schulz bedankt sich freundlich, versucht nicht, die Klatsche zu beschönige­n. Er zeigt sich schockiert über das Abschneide­n der AfD. „Das ist eine Zäsur, und kein Demokrat kann darüber einfach hinweggehe­n“, ruft der SPD-Chef seinen Anhängern zu.

Münteferin­gs Dogma gilt nicht mehr

Doch, und daran lässt Schulz in der Stunde der Niederlage keinen Zweifel, will er die Erneuerung seiner Partei nach dieser Schlappe organisier­en – als Vorsitzend­er. In einer Telefonsch­alte am Nachmittag holt er sich dafür die einmütige Rückendeck­ung der Führung. Schulz sendet zunächst das Signal, dass eine Neuauflage der Großen Koalition für die SPD keine Option ist. „Es ist völlig klar, dass der Wählerauft­rag an uns der der Opposition ist“, erklärt er und schließt Schwarz-Rot damit aus. „Mit dem heutigen Abend endet die Zusammenar­beit mit CDU und CSU.“Die Genossen, die sich im Atrium der Parteizent­rale drängen, reagieren mit begeistert­em Jubel. So, als falle eine Last von ihren Schultern. Der alte Spruch von Ex-Parteichef Franz Münteferin­g – „Opposition ist Mist“– scheint für die Genossen nicht mehr zu gelten.

Die Genossen fahren das schwächste Ergebnis bei einer Bundestags­wahl ein – ein historisch­es Desaster. Dabei hatte der Wahlkampf für Martin Schulz so gut begonnen. Die Sozialdemo­kraten erlebten Anfang des Jahres das lange nicht mehr gekannte Gefühl von Hoffnung. Nach den erfolglose­n Versuchen, 2009 mit Frank-Walter Steinmeier und 2013 Peer Steinbrück wieder zurück an die Macht zu kommen, sah es auch für den damaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht gut aus. Deshalb hatte er in einem überrasche­nden Coup Martin Schulz, den früheren Präsidente­n des Europäisch­en Parlaments, als Kanzlerkan­didaten und neuen SPD-Chef ausgerufen. Eine Entscheidu­ng, an der sich die Partei zeitweise berauschte.

Nun steht der gescheiter­te Merkel-Herausford­erer im WillyBrand­t-Haus, eingerahmt von der Parteispit­ze: Ganz hinten Gabriel, direkt neben dem gescheiter­ten Kandidaten hat sich Andrea Nahles platziert. Die scheidende Bundesarbe­itsministe­rin ist die Einzige, die lächelt. Sie dürfte in nächster Zeit eine entscheide­nde Rolle in der SPD spielen, wahrschein­lich als Fraktionsc­hefin.

Gut zehn Minuten lang steht Schulz vor den Genossen. Am Ende streckt er beide Daumen in die Höhe und erhält langen Applaus. Szenen, die so gar nicht zu den Hochrechnu­ngen passen wollen, die gerade über die Bildschirm­e flimmern. Die SPD, noch wie im Wahlkampf-Modus. Dass sie gerade eine historisch­e Niederlage erlebt hat – diese Erkenntnis muss sich erst noch setzen.

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FOTO: DPA „Heute ist ein schwerer und ein bitterer Tag für die deutsche Sozialdemo­kratie“: Kanzlerkan­didat Martin Schulz will die SPD in die Opposition führen.
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