Schwäbische Zeitung (Biberach)
Berliner Volksbühne von Aktivisten belagert
Der neue Intendant Chris Dercon fordert Politik zum Handeln auf
BERLIN (dpa) - Selten wird um die Zukunft des Theaters so handfest gekämpft. Kunst- und Politaktivisten halten Chris Dercons Volksbühne besetzt. Im Schatten der Belagerungshysterie startet Oliver Reese am Berliner Ensemble in die Ära nach Claus Peymann. Dort feierte die Österreicherin Stefanie Reinsperger ihr umjubeltes Berlin-Debüt in Bert Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“.
Seit Freitagnachmittag belagern Aktivisten die Volksbühne des ungeliebten neuen Intendanten Chris Dercon. Ein Künstlerkollektiv namens „Staub zu Glitter“kündigte an, in der Volksbühne solle ein „AntiGentrifizierungszentrum“entstehen. Die Übernahme sei als „darstellende Theaterperformance“zu sehen, ein eigenes Programm werde auf die Beine gestellt. Bis dahin wird erst mal Party gemacht.
Dercon taucht zuerst ab, verhandelt dann noch in der Nacht gemeinsam mit Kultursenator Klaus Lederer (Linke) mit den Besetzern – und zeigt sich zunächst relativ gelassen. Von Räumung des Hauses ist am Samstag nicht die Rede.
Am Sonntagnachmittag heißt es dann in einer Erklärung von Dercon und seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock: „Wir fordern, dass die Politik jetzt dringend ihrer Verantwortung nachkommt und handelt.“Sie verurteilten die Besetzer und deren Anliegen nicht, ihre stadtpolitischen und sozialen Themen seien wichtig für die Hauptstadt. „Aber wir verurteilen die unverantwortliche Art und Weise, wie sie sich am Freitagnachmittag das Haus gegriffen haben.“
Die Volksbühnen-Besetzung wird auch von den Besuchern des Berliner Ensembles leidenschaftlich diskutiert. Bereits am Donnerstagabend begann dort der Premieren-Marathon, mit dem Reese seine erste Spielzeit startet. Zum Einstand spritzt das Theaterblut in Antú Romero Nunes’ Version von Camus’ Tyrannen-Drama „Caligula“. Während die als HorrorClowns ausstaffierten Schauspieler beeindrucken, kann die Regie nicht ganz überzeugen. Mit der zweiten Premiere am Freitagabend löst Reese dann sein Versprechen ein, aus dem Berliner Ensemble in Zukunft eine Bühne für internationale zeitgenössische Dramatik zu machen. Als deutschsprachige Erstaufführung zeigt die Slowenin Mateja Koleznik das düstere Beziehungsdrama „Nichts von mir“des Norwegers Arne Lygre, mit Stars wie Corinna Kirchhoff, Judith Engel und Anne Ratte-Polle.
Als Höhepunkt des PremierenReigens wurde am Samstagabend dann Thalheimers „Kreidekreis“heftig beklatscht. In Thalheimers greller, von stark überzeichneten Charakteren geprägten Inszenierung sticht die 29-jährige Reinsperger heraus.