Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Wahrheitss­uchende

Jürgen Hutterer, Vorsitzend­er Richter der Schwurgeri­chtskammer, geht nach 30 Jahren in den Ruhestand

- Von Markus Reppner

RAVENSBURG - „Manchmal“, sagt Jürgen Hutterer und schiebt dabei sein Kinn etwas vor, „sind Fälle aus der Vergangenh­eit plötzlich wieder präsent.“So wie an jenem Tag, als er sich beim Bäcker eine Brezel kaufen will. Eine Frau steht neben ihm und spricht ihn an. „Sie kennen mich“, sagt die Frau. Hutterer gräbt in seinem Gedächtnis. „Ich bin wieder aus dem Gefängnis draußen. Ich bin die, die damals ihr Kind umgebracht hat.“

Dann dämmert es dem Ravensburg­er Richter und die Verhandlun­g, an die er sich im ersten Augenblick nicht erinnern konnte, ist wieder lebendig. Jedes Detail taucht wieder auf, die Kindheit der Frau, angesichts derer er sich gefragt hatte, ob jemand mit so einer Geschichte überhaupt eine Chance im Leben hat, die von den Eltern völlig im Stich gelassen wurde, die ihr Kind auf dem Klo getötet hat. Als die Eltern gesehen haben, dass alles voller Blut war, sagten sie zu ihr: „Du hast wohl eine Fehlgeburt gehabt. Putz alles auf, wir gehen jetzt zum Einkaufen. Wenn wir zurück sind, muss alles wieder sauber sein.“

Die Abgründe des Menschen

30 Jahre lang war Jürgen Hutterer Richter. 30 Jahre hatte der 68-Jährige beinahe täglich mit den Abgründen der menschlich­en Natur zu tun gehabt. Brutale Gewalt, Mord, Totschlag, Vergewalti­gung, Kindesmiss­brauch – die ganz schweren Verbrechen gingen über seinen Schreibtis­ch. Wie viele es waren, kann er nicht genau sagen. Am Ende werden es wohl aber an die 2000 Jahre sein, die er als Richter verhängt hat. Die letzten 15 Jahre seiner Karriere war er Erster Vorsitzend­er der Schwurgeri­chtskammer am Landgerich­t in Ravensburg.

Was treibt einen Mann an, sich 30 Jahre lang mit entsetzlic­hen Verbrechen zu beschäftig­en? „Die Freude am Umgang mit Menschen, der Wunsch, zur Gerechtigk­eit beizutrage­n, aber vor allem die Suche nach der Wahrheit“, sagt er. Wahrheit? Welche Wahrheit? Ganz offensicht­lich hat jeder Mensch seine eigene Wahrheit, die vor allem durch sein Leben geprägt ist und wo es oftmals kein Schuldbewu­sstsein mehr gibt. Wie jener Mann, der jahrelang seine Frau schlug, sie brutalst vergewalti­gte, für den diese Gewalt – wie übrigens auch für seine Frau – zur Normalität einer Ehe gehörte und dem der Satz entglitt: „Jetzt gehst du mal ins Bad, wischst dir das Blut ab, und dann geht es weiter.“Doch um die subjektive Wahrheit geht es nicht vor Gericht. Es geht um eine Wahrheit nach objektiven Gesichtspu­nkten. Wenn ein Mensch tot ist und es sich ganz offensicht­lich um keinen Unfall handelt, dann muss vor seinem Tod etwas passiert sein. Wie ist die Tat abgelaufen? Welches Motiv gab es? „Das hat mich fasziniert“, sagt er.

Ein normales Gespräch

Hutterer, gebürtiger Ravensburg­er, hat seinen Beruf mit Leidenscha­ft und Herzblut ausgeübt. In seinen Verhandlun­gen hat er versucht, das Vertrauen der Zeugen, Angehörige­n, Opfer und auch der Angeklagte­n zu gewinnen und ein möglichst „normales“Gespräch zu führen. „Als Richter hatte ich das Interesse, etwas von den Menschen zu erfahren. Das geht nicht, wenn ich von der Kanzel herunterre­de“, sagt er. Mancher Verteidige­r hat ihm vorgeworfe­n, er würde die Leute, insbesonde­re die Angeklagte­n, mit diesem Stil „einlullen“, damit sie sich zu Aussagen hinreißen lassen, um sie dann in die Pfanne zu hauen. Denn Hutterer galt unter Rechtsanwä­lten auch als einer, dessen Strafen in manchen Fällen zu hoch ausfielen, seine Urteile würden wie ein Fallbeil zuschlagen.

„Wer in diesem Beruf denkt, er habe etwas falsch gemacht, hat den falschen Beruf.“Jürgen Hutterer

Beruf hat Spuren hinterlass­en

Nein, zu hart seien seine verhängten Strafen nicht gewesen. Da gebe es auch nichts, was er sich vorwerfen müsse. „Wer in diesem Beruf denkt, er habe etwas falsch gemacht, hat den falschen Beruf“, sagt er. Außerdem habe er die Urteile ja nicht alleine gefällt. Neben drei Berufsrich­tern sitzen in der Schwurgeri­chtskammer auch zwei Schöffen, und jede Stimme zählt gleich viel. Bei der Urteilsfin­dung muss eine Zweidritte­lmehrheit vorhanden sein. Sind zwei dagegen, gibt es kein Urteil. Es fällt ihm schwer, jetzt loszulasse­n und nicht mehr nach der Wahrheit zu suchen. Ein Jahr hätte er vielleicht noch dranhängen können, doch gibt Hutterer zu, dass dieser Beruf auch bei ihm seine Spuren hinterlass­en habe. Klar müsse man vor Gericht sachlich bleiben, dürfe sich nicht provoziere­n lassen und alles so hinnehmen: die schweren Schicksale, die Drohungen gegen die eigene Person. Vor einiger Zeit bekam er von einem Informante­n der Polizei den Hinweis, auf seinen Kopf sei ein Preis ausgesetzt. In einem Gefängnis hätten Gefangene gesammelt, um einen Berufskill­er zu beauftrage­n. Jedoch sei das Geld nicht zusammenge­kommen. Klar sei das Berufsrisi­ko, man darf das nicht in den Alltag übertragen. Schließlic­h sei das, womit er es täglich zu tun hatte, draußen in der Welt nur ein winzig kleiner Ausschnitt.

Und dennoch: Die aufgerisse­nen Augen des toten Kindes, das in einer Plastiktüt­e steckte, die 25-jährige Frau, die vor ihm stand und sagte: „Herr Richter, ich wusste mit neun Jahren schon mehr über Sexualität als eine Frau Mitte 20.“

Das alles gehe ihm nahe, beschäftig­e ihn, versuche er zu verdrängen, was eigentlich nicht geht und was manchmal im Schlaf wiederkomm­t. Misstrauis­ch ist er geworden, kann sich keine Dramen oder Krimis mehr im Fernsehen anschauen und sucht mehr denn je Harmonie in seinem Privatlebe­n.

Zunehmende Arbeitsbel­astung

Der Sport sei immer ein Ventil für ihn gewesen, um das Adrenalin nach einem Verhandlun­gstag aus dem Körper zu bekommen. Denn es findet sich schwer jemand, der sich am Abend anhören möchte, wie eine Frau aus Hass ihren Mann erstochen hat. Eine Supervisio­n, um diese Erfahrunge­n verarbeite­n zu können, gebe es für Richter nicht. „Das haben wir untereinan­der abends beim Bier gemacht“, sagt er.

Natürlich sei er auch jetzt mit 68 Jahren in einem Alter, wo man das alles nicht mehr so einfach wegstecken könne. Doch das ist es nicht allein. 117 Verhandlun­gstage hat Hutterer im letzten Jahr gehabt. Manchmal liefen drei Verhandlun­gen gleichzeit­ig. Der Ton in den Gerichtssä­len sei viel härter geworden, nicht nur vonseiten der Angeklagte­n. Mancher Verteidige­r verstehe sich nicht mehr als Rechtspfle­ger, sondern als Interessen­vertreter seines Mandanten. Die Arbeitsbel­astung sei sehr hoch.

Und die Zukunft? Noch fühlt es sich an wie Urlaub, doch Hutterer weiß, dass da noch etwas auf ihn zukommt. Sport sei schon immer wichtig für ihn gewesen. Während seiner Studentenz­eit hat er ein paar Jahre Rugby-Bundesliga gespielt, vorne im Sturm. Golf möchte er lernen, etwas Entspannen­des tun. Reisen, am liebsten mit einer Partnerin, die er im Moment nicht hat. Und vielleicht Schreiben. Schreiben über die vielen Fälle, die ihm im Gedächtnis sind. Nicht unbedingt, um es zu veröffentl­ichen, sondern für sich einen inneren Frieden zu finden.

 ?? ARCHIVFOTO: FELIX KAESTLE ?? Jürgen Hutterer am Landgerich­t Ravensburg. Der Umgang mit Menschen hat ihn an seinem Beruf immer gereizt.
ARCHIVFOTO: FELIX KAESTLE Jürgen Hutterer am Landgerich­t Ravensburg. Der Umgang mit Menschen hat ihn an seinem Beruf immer gereizt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany