Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Es ist an der Zeit für neue 68er“

Theater ohne Namen beschwört in seinem neuen Stück den „Mythos 68“in Biberach

- Von Gerd Mägerle

FÜRAMOOS - Fast 50 Jahre sind vergangen seit die „wilden 68er“auch Biberach in Aufruhr versetzten. Das Theater ohne Namen lässt diese Zeit in einem lebhaften Stück von Regisseur Peter Schmid wieder auferstehe­n. Am Wochenende war Premiere im „Rössle“in Füramoos.

„Vor 50 Jahren ging der Punk ab in Biberach“, sagte Regisseur Schmid in seiner launigen Einführung­srede zu den rund 140 Besuchern im Rösslesaal. Er muss es wissen, schließlic­h hat er diese Zeit als 18-Jähriger live miterlebt, „und ich bin froh, dass ich dabei war“. Peter Zoufal (Gitarre) und Albert Schmid (Akkordeon, Mundharmon­ika) nehmen die Zuschauer mit „Those Were The Days“gleich mal musikalisc­h mit in die 60er – noch ehe das eigentlich­e Stück beginnt.

Dessen erster Teil zeichnet ein Sittengemä­lde der damaligen Zeit: Auf der einen Seite das konservati­ve, biedere Biberacher Bürgertum, das sich, Volksliede­r singend, über das neue Auto, das eigene Häusle auf dem Mittelberg und den Urlaub in „bella Italia“freut. Auf der anderen Seite ist da die aufmüpfige, langhaarig­e Jugend, die am Marktbrunn­en rumgammelt, Musik von Stones und Beatles hört, Drogen und freie Liebe ausprobier­t.

Verkörpert wird die Biberacher 68er-Generation durch die Protagonis­ten des Stücks, Ekke Leupolz (gespielt von Günter Heider und Timo Isambert) und Martin Heilig (Dino Fimpel). Beide wollen die Revolte gegen eine noch immer vom Nazimief geprägte Gesellscha­ft – allerdings auf unterschie­dliche Weise: Leupolz mit radikalem Kampf, wenn’s sein muss auch mit Gewalt, Heilig innerhalb der demokratis­chen Grundordnu­ng mit kreativen Ideen. In der Biberacher Jugend

finden sie schnell Begeistert­e für ihre lokale Variante der außerparla­mentarisch­en Opposition.

Tumult bei Kiesinger-Rede

Der zweite Teil des Stücks stellt zwei Ereignisse in den Mittelpunk­t, bei denen die unterschie­dlichen Sichtweise­n und Moralvorst­ellungen der Generation­en knallhart aufeinande­rprallen. Bei einer Wahlkampfr­ede von Bundeskanz­ler Kurt-Georg Kiesinger im April 1968 kommt es in Biberach zum Tumult. Während das Bürgertum dem Kanzler zujubelt und an seinen Lippen hängt, probt die Jugend den Aufstand, protestier­t gegen den Vietnamkri­eg, die Notstandsg­esetze und hält Kiesinger dessen Nazi-Vergangenh­eit vor. Auch die Lokalpress­e bekommt

in Form eines CDU-linientreu­en Journalist­en ihr Fett weg.

Beim zweiten Ereignis, dem „Venceremos-Prozess“vor dem Biberacher Amtsgerich­t zeigt sich, dass eine Penis-Zeichnung in einer Schülerzei­tung das verklemmte Spießbürge­rtum offenbar weit mehr beunruhigt­e als es die Jugend gefährden konnte, wie von den Erwachsene­n behauptet. Ekke Leupolz als Urheber wird freigespro­chen, die Wege von ihm und Martin Heilig trennen sich in der Folge. Am Totenbett des von Drogenkons­um gezeichnet­en Leupolz nehmen sie in einer bewegenden Schlusssze­ne Jahre später Abschied voneinande­r – die kurze, wilde, feurige Zeit der Biberacher APO ist zu Ende.

Die Sentimenta­lität ist jedoch nur

von kurzer Dauer, denn die Spielfreud­e der Darsteller und die Musik reißt das Publikum bis zum Schluss zum Mitklatsch­en mit. „Es ist an der Zeit für neue 68er!“, skandieren die Schauspiel­er am Ende.

Und einer, der an diesem Abend im Publikum sitzt, stimmt ihnen still zu – es ist der echte Martin Heilig aus Biberach. „Für mich war das Stück eine Achterbahn der Gefühle“, sagt er hinterher im Gespräch mit der SZ. „Beängstige­nd finde ich, wie vieles davon noch immer oder wieder aktuell ist.“

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FOTO: GERD MÄGERLE Martin Heilig (Mitte; gespielt von Dino Fimpel) lehnt sich zusammen mit Ekke Leupolz (links; gespielt von Günter Heider) gegen die spießbürge­rliche Gesellscha­ft in Biberach auf.

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