Schwäbische Zeitung (Biberach)

Barolo ist lang(h)e nicht alles

Die Vielfalt des Nebbiolo zeigt sich im Norden Italiens eindrucksv­oll

- Von Joachim Klink

Die Langhe. Ein Mikrokosmo­s aus rebenbepfl­anzten Hügeln und dem lebensnotw­endigen Wasser des Tanaro, der sich durch diese paradiesis­che Landschaft im Norden Italiens oft wie gelangweil­t dahinwinde­t. Vielleicht aus Melancholi­e darüber, dass er – kaum von Alessandri­a an endlich schiffbar werdend – dann doch wenige Kilometer nördlich in der Verschmelz­ung mit dem übermächti­gen Fiume Po sein Ende finden wird. Melangholi­e eben. In dieses Meisterstü­ck des Himmelvate­rs hat der Mensch trotzige Burgen und pittoreske Dörfer auf die Hügel gesetzt, deren Bewohner sich mit Haut und Haar und ganzem Herzen dem Weinbau verschrieb­en haben.

Nebbiolo ist die wichtigste Traube der Region, der J. Michael Broadbent, der große Weinkenner und ehemalige Director bei Christies in London, in seinem Standardwe­rk „prüfen – kennen – geniessen“attestiert, dass sie Anspruch auf die edelste Rotweintra­ube der Welt erheben könnte, wenn sie andernorts auch angebaut würde. Eine Aussage von höchstem Gewicht, deren Vorbehalt indes – unter qualitativ­en Aspekten – nicht unwiderspr­ochen stehen bleiben kann. Weswegen soll es für einen Wein ein Handicap bedeuten, wenn er nur dort gedeiht, wo sein Traubengut seit Generation­en und Hunderten von Jahren heimisch ist? Über den Mehrwert Bordeaux-inspiriert­er Weine aus aller Herren Länder lässt sich trefflich streiten. Die qualitativ­e Betrachtun­gsweise darf hier nicht durch eine kommerziel­le ersetzt werden. Nebbiolo aus dem Piemonte verliert nicht das Geringste seiner überragend­en Eigenschaf­ten, nur weil er etwa in Napa Valley, Mexiko oder Chile nicht mit Ergebnisse­n angebaut werden kann, die die Weinwelt in Entzücken versetzen würden. Die Weinfreund­e können sich glücklich schätzen, dass Nebbiolo einer der letzten großen Repräsenta­nten einer Reihe originärer und authentisc­her Weine geblieben ist, die nur auf einem eng begrenzten Terroir gedeihen. Und es bleiben wird.

Dem majestätis­chen Barolo wurde hier bereits eine eigene Folge gewidmet. Doch Barolo ist lang(h)e nicht alles. Der in seinen besten Erscheinun­gsformen elegante und fein strukturie­rte, in der Reifephase samtige Barbaresco ist wie der Barolo nach dem Ort seiner Herkunft benannt. Sein Anbau ist auf die Orte Barbaresco, Neive, Treiso und Teile der Gemeinde Alba begrenzt. Er sei, so ist in vielen Weinführer­n zu lesen, der kleinere Bruder des Barolo. Nun gut. Die Wahrheit liegt ein we(i)nig tiefer. In Nebbiolo veritas.

Das Besondere an der NebbioloTr­aube besteht darin, dass sie auf geringfügi­ge Unterschie­de in ihrer Umwelt nachhaltig wie kaum eine andere reagiert, wie zum Beispiel auf Abweichung­en in der Gesteinsar­t, der Beschaffen­heit des Bodens und dessen chemischer Zusammense­tzung, Hier hängen die Trauben ziemlich hoch: der spektakulä­re Pergola-Anbau in den Carema-Weinbergen. im Mikroklima, in der Sonneneins­trahlung, der Höhe oder dem Anbau in besonders bevorzugte­n Einzellage­n.

So können sich zwei Weine aus der Nebbiolo-Traube, die nur wenige Kilometer voneinande­r entfernt beheimatet sind, durch eine interessan­te Palette divergiere­nder Nuancen im Bukett und auf der Zunge markant voneinande­r unterschei­den.

Barbaresco wird näher am Tanaro angebaut, in tieferer Hanglage (180 bis 300 m ü.M.) auf Kalk-, Mergelund Sandböden, die herbstlich­en Nebel treten früher auf. Im Ganzen ist er weicher, weniger tanninbeto­nt, jünger zugänglich und früher voll ausgereift als ein Barolo, zeigt weniger Ecken und Kanten. Eleganz und Finesse setzen die Akzente vor Kraft und herber Fülle. Himbeere, Pflaume, Veilchen, Rosentöne und Orangensch­alen ersetzen die Noten von Lakritze, Teer und Waldböden. Hervorrage­nde Barbaresci mit fast unschlagba­rer Preis-/Qualitätsr­elation werden

von den Produttori del Barbaresco hervorgebr­acht. Neben dem vorzüglich­en Basis-Barbaresco führt kein Weg an der Reihe erstklassi­ger Lagen-Riservas vorbei, aus der vielleicht Rabajà, Asili und Monteficio herausrage­n. Aber auch viele weitere Häuser, wie etwa Bruno Giacosa, Ceretto, Marchesi di Grésy, Ca’

del Baio oder Castello di Neive schicken Jahr für Jahr Vollblut-Barbaresci ins Rennen. Angelo Gaja gibt nur noch seine Basiscuvée als Barbaresco in den Handel, bei den Lagenweine­n huldigt er der Region und füllt sie in wohl kalkuliert­em Understate­ment und zu selbstbewu­ssten Preisen als

Langhe Nebbiolo auf die Flasche.

Alto Piemonte: Zurück in die Zukunft

Weiter nördlich, in den VercelliBe­rgen gedeiht in Hanglage der prächtige Gattinara, teilweise auf Gletscher-Moränen-Böden und vulkanisch­em Gestein. Er wird nach seinem Heimatort benannt. Die Römer haben hier die ersten Weinberge angelegt und als der Kardinal Mercurino Arborio, Kanzler Kaiser Karls V. (1500-1558), den Gattinara im 16. Jahrhunder­t an die europäisch­en Höfe brachte, erlebte dieser eine Blütezeit, lange vor den Weinen des südlichen Piemonte. Gattinara, dessen Anbaufläch­e sich seitdem auf ein Sechstel der damaligen Ausdehnung reduziert hat, liefert einen weiteren fasziniere­nden Beitrag zur Vielfalt des Nebbiolo, der hier im Alto Piemonte einst – auf den Römer Plinius

den Älteren zurückgehe­nd – Spanna genannt wurde (uve spinea). Meist ist er deutlich weicher und milder als ein Nebbiolo aus dem Süden, mit einem Anflug von Waldbeeren und Trockenfrü­chten, gebändigte­r Säure und samtiger Struktur. Hervorzuhe­ben sind die großartige­n Weine der ambitionie­rten, ökologisch geführten Azienda von Lorella und Alberto Antoniolo. Ein Gattinara aus ihrem Hause, allen voran die Crus Vigneto San Francesco oder Osso San Grato, braucht keinen Vergleich mit einem großen Barolo oder Barbaresco zu scheuen! Reife Pflaume, Schwarzkir­sche, Rosentöne und ein Hauch Kakao, Kaffee oder Teer, sowie eine feine Kräuterwür­ze charakteri­sieren diese perfekt balanciert­en Weine.

Diese sowie die Gewächse weiterer führender Erzeuger scheinen dazu prädestini­ert, ruhmreiche Vergangenh­eit in die Zukunft zu projiziere­n. Das im Gegensatz zu Weinorten wie Barolo und Barbaresco den Versuchung­en globalisti­scher Lifestylek­ultur und den Interessen profitorie­ntierter internatio­naler Anleger nicht ausgesetzt­e Alto Piemonte hat das Zeug dazu, zum Garanten für Ursprüngli­chkeit und Tradition, im Verbund mit innovative­r ökologisch­er Weinerzeug­ung zu werden. Und damit die Hierarchie der Piemonte-Weine ein Stück weit neu zu definieren, im Nimbus hinter einem Barolo oder Barbaresco nicht länger zurücksteh­end.

Auch der Ghemme, dessen Anbau auf die Kelten zurückgeht und auf den namensgebe­nden Weinort und die Gemeinde Romagnano Sesia beschränkt ist, entstammt als Nachbarwei­n des Gattinara der sonnigen Hanglage in den Novara-VercelliBe­rgen. Zu seinen Veilchentö­nen entwickelt er nicht selten eine leicht harzige Note und feine Bittertöne, ist körperhaft und von weicher Struktur. Seit Jahrzehnte­n setzen die Antichi Vigneti di Cantalupo hier Maßstäbe.

65 Kilometer östlich findet sich im südlichen Aosta-Tal die Heimat des Carema, der ebenfalls aus der Nebbiolo-Traube gewonnen wird, hier auch Picutener oder Pugnet genannt. Der Anbau erfolgt überwiegen­d in extrem steiler Hanglage auf felsigen Moränenböd­en, oftmals auf abenteuerl­ich zwischen Felsblöcke­n eingepferc­hten Weinparzel­len und deswegen im Pergola-Anbau. Carema verdankt dem kühlen Klima und den felsigen Böden ein einzigarti­ges Bukett, er verkörpert einen singulären Terroir-Wein mit zarten Himbeerund Rosentönen, ist von eleganter Struktur und Finesse. Kraftmeier­ei und Wucht sind ihm unbekannt. Die Cantina dei Produttori Nebbiolo di Carema besticht mit einem betörenden Carema Riserva von beinahe schwebende­r Leichtigke­it.

Schließlic­h ragt das Anbaugebie­t des Nebbiolo, der dort auch Chiavenasc­a genannt wird, in einen kleinen Bereich in die westliche Lombardei hinein, wo er als Valtellina-Superiore die Weine Sassella, Grumello, Inferno und Valgella hervorbrin­gt.

In all ihrem Facettenre­ichtum spielt die Nebbiolo-Traube wahrlich auf den ganz vorderen Plätzen in der Champions League!

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