Schwäbische Zeitung (Biberach)
Von der Trauernden zur Trösterin
Nach dem Tod ihres neugeborenen Sohnes wird Nicole Rinder Bestatterin und hilft Hinterbliebenen
Damals saß Nicole Rinder noch auf der anderen Seite des Tisches, ihr gegenüber war ein Bestatter. Ein Bestatter, der ihren Sohn Leon-Paul zu Grabe tragen sollte – jenes Kind, das während des Gesprächs über Särge, Grabsteine und die Trauerfeier im Bauch von Nicole Rinder strampelte, boxte und Salti schlug.
„Ich war hochschwanger“, erzählt die zierliche Frau, lehnt sich zurück und formt mit ihren Händen eine Kugel vor dem Bauch. „Und gleichzeitig unterhalte ich mich über die Beerdigung meines Kindes, das noch nicht mal geboren wurde.“Ihre Hände wandern zum Kopf, die Fingerspitzen tippen an die Schläfen. „Das war verrückt!“– und zugleich todtraurig.
Heute führt Rinder genau solche Gespräche regelmäßig, jedoch in der Rolle der Bestatterin – doch dazu später. Zunächst zurück zu jenen Herbsttagen 1999, die das Leben der damals 27-Jährigen aus den Angeln heben und auf eine andere Bahn setzen. Die gebürtige Schwäbin aus Heidenheim, die seit Langem in München ’’ Ich habe damals nur aus Schmerz bestanden.
Nicole Rinder
lebt, arbeitet seinerzeit als Arzthelferin bei einem Gynäkologen. „Ich war ständig von Schwangeren und Babys umgeben. Ich liebe Kinder, für mich war das wunderbar.“Dass auch sie dereinst Mutter werden wird, steht für die junge Frau außer Zweifel. „Ich bin mit einem Bruder und einer Schwester groß geworden. Für mich war klar, dass ich drei Kinder bekomme.“
Nach diesem Satz macht die heute 42-Jährige eine kurze Pause. Sie ist eine gute Erzählerin, der man gerne zuhört. Ihre dunklen Augen wirken beruhigend, die Stimme ist warm – man kann sich gut vorstellen, wie tröstlich sie als Trauerbegleiterin auf Angehörige wirkt, die das Liebste im Leben verloren haben. Oder wie sie es für sich selbst umschreibt: „Ich habe damals nur aus Schmerz bestanden. Man fühlt sich wie in einer Luftblase, nimmt alles nur gedämpft war.“
Es ist Mitte 1999, als Nicole Rinder und ihr Partner von ihrer Schwangerschaft erfahren. Es ist ein Wunschkind, die Vorfreude riesig, die Monate sorglos – bis zu jenem unheilvollen Tag vier Wochen vor dem Geburtstermin. Nach einem Ultraschall teilt der Arzt dem Paar mit: „Ihr Kind ist krank. Schwer krank.“Es habe ein Aneurysma im Gehirn; Experten stellen später überdies einen Herzfehler fest. Noch am Tag des Ultraschalls eröffnet der Arzt den Eltern: „Ihr Kind wird sterben.“
Was bis vor diesem Satz LeonPaul gewesen ist, ihr geliebter Sohn, der im Mutterleib strampelt, den Nicole Rinder nicht nur spürt, sondern mit dem sie auch spricht – dieses Kind kommt ihr nun wie ein Fremdkörper vor. „Ich wollte meinen Bauch nicht mehr anfassen und am liebsten direkt in die Klinik fahren. Kaiserschnitt. Weg damit“, erzählt sie, ihre sanfte Stimme wird hart. Doch der Arzt lehnt ab: Ein Kaiserschnitt sei schließlich eine Notoperation, erklärt er.
„Zum Glück“, sagt Rinder heute, habe sie damals warten müssen und Zeit bekommen. Zeit, um sich mit dem nahenden Tod auseinanderzusetzen. Sie besucht eine Frau, die dasselbe Schicksal ereilt hat. Die zeigt der Hochschwangeren Bilder ihres Kindes, das nur einen Tag lebte. „Dieses Treffen hat bei mir alles verändert“, sagt Nicole Rinder. Jetzt will auch sie ihren Sohn gebären, ihn im Arm halten, sich von ihm verabschieden. Statt für die Klinik entscheidet sie sich fürs Geburtshaus – so wie wie ursprünglich geplant. „Ich habe in diesen Tagen viel geheult und war todtraurig“, erzählt sie. Aber: „Ich habe mich auch gefreut auf die Geburt.“
Als es so weit ist, und der winzige Leon-Paul auf ihrer Brust liegt, empfindet Nicole Rinder „pures Glück“. Der Bub wird gebadet und gewickelt, er schreit und trinkt an der Brust – alles wirkt trügerisch normal. Noch in der Nacht nehmen die Eltern ihr Baby mit nach Hause, auf dem Weg rufen sie Familie und Freunde an: Alle sollen kommen, um sich von LeonPaul zu verabschieden. Vier Tage lebt das zum Sterben verurteilte Kind. Vier Tage, in denen sie kaum geschlafen habe, erzählt Nicole Rinder. Vier Tage, die „ein Geschenk“gewesen seien – genauso wie der Tag nach Leon-Paul Tods, den sie zu dritt daheim verbringen, ehe der Bestatter den Leichnam abholt. „Wir hatten Zeit, um uns von unserem Sohn zu verabschieden“, sagt die Mutter. „Zeit, um loszulassen.“
Zeit, die viele Frauen toter Kinder nicht bekommen – das wird Nicole Rinder erst klar, als sie Wochen nach der Geburt eine Selbsthilfegruppe besucht. „Als ich erzählt habe, wie es bei mir war, haben mich die anderen mit großen Augen angesehen.“Es ist der Moment, in dem Nicole Rinders Lebensweg eine neue Wendung nimmt: Der Tod, den sie bis hierhin wie so viele gefürchtet und verdrängt hat, er wird nun zur Lebensaufgabe, zum Lebensinhalt. Weil sie einen Geburtsvorbereitungkurs speziell für Mütter sterbenskranker Kinder anbieten will, beginnt sie eine Ausbildung zur Geburtsvorbereiterin. Ihre Kurse hält sie bei einem neu gegründeten Bestattungsinstitut am Münchner Westfriedhof – geleitet von Florian Rauch, der die Beerdigung von Leon-Paul organisiert hatte. Nach einiger Zeit fragt er Nicole Rinder, ob sie als Trauerbegleiterin bei ihm anfangen wolle. Erst zögert die junge Frau, doch dann sagt sie zu, beginnt noch einmal eine Ausbildung, gibt ihren Beruf als Arzthelferin auf.
Seither ist Rinder Bestatterin, aber keine, die Gräber aushebt und Kreuze aufstellt. Und auch um die Wahl des Sarges – Eiche oder Ahorn? – geht es ihr nur bedingt. Vielmehr will sie Hinterbliebene ermutigen, sich mit ihrem Verlust und der Trauer intensiv zu beschäftigen. Meist rät sie, den Toten aufzubahren, um sich von Angesicht zu Angesicht zu verabschieden – mit der ganzen Familie, mit den Freunden, besonders auch mit Kindern. „Früher war es normal, dass in der Großfamilie gestorben wurde“, sagt Nicole Rinder. „Aber wir haben verlernt, mit dem Tod umzugehen.“
’’ Wir haben verlernt, mit dem Tod umzugehen.
Nicole Rinder
Sie selbst hat es lernen müssen – als ihr Sohn aus dem Leben gerissen wurde. Zwei Jahre später wäre sie wieder bereit gewesen, ein Kind zu bekommen, erzählt die Bestatterin – nicht aber ihr Partner. Der habe sich sechs Jahre nach dem Kindstod von ihr getrennt. „Für mich war es wieder ein Abschied, den ich nicht wollte, mit dem ich von heute auf morgen konfrontiert wurde“, schreibt Nicole Rinder in ihrer kürzlich erschienenen Biographie. Inzwischen habe sie aber auch diese Trennung überwunden, sei vielmehr dankbar für die gemeinsame Zeit. „Mein Traum als junge Frau waren drei Kinder, ein Hund, eine Katze – das volle Familienleben“, sagt Nicole Rinder. „Es ist ganz anders gekommen, und dennoch fühle ich mich äußerst wohl in meinem Leben.“
„Der Tod bringt mich nicht um – Warum ich Bestatterin geworden bin“
von Nicole Rinder ist im September 2017 im Patmos-Verlag erschienen und kostet 18 Euro.