Schwäbische Zeitung (Biberach)

Von der Trauernden zur Trösterin

Nach dem Tod ihres neugeboren­en Sohnes wird Nicole Rinder Bestatteri­n und hilft Hinterblie­benen

- Von Patrik Stäbler

Damals saß Nicole Rinder noch auf der anderen Seite des Tisches, ihr gegenüber war ein Bestatter. Ein Bestatter, der ihren Sohn Leon-Paul zu Grabe tragen sollte – jenes Kind, das während des Gesprächs über Särge, Grabsteine und die Trauerfeie­r im Bauch von Nicole Rinder strampelte, boxte und Salti schlug.

„Ich war hochschwan­ger“, erzählt die zierliche Frau, lehnt sich zurück und formt mit ihren Händen eine Kugel vor dem Bauch. „Und gleichzeit­ig unterhalte ich mich über die Beerdigung meines Kindes, das noch nicht mal geboren wurde.“Ihre Hände wandern zum Kopf, die Fingerspit­zen tippen an die Schläfen. „Das war verrückt!“– und zugleich todtraurig.

Heute führt Rinder genau solche Gespräche regelmäßig, jedoch in der Rolle der Bestatteri­n – doch dazu später. Zunächst zurück zu jenen Herbsttage­n 1999, die das Leben der damals 27-Jährigen aus den Angeln heben und auf eine andere Bahn setzen. Die gebürtige Schwäbin aus Heidenheim, die seit Langem in München ’’ Ich habe damals nur aus Schmerz bestanden.

Nicole Rinder

lebt, arbeitet seinerzeit als Arzthelfer­in bei einem Gynäkologe­n. „Ich war ständig von Schwangere­n und Babys umgeben. Ich liebe Kinder, für mich war das wunderbar.“Dass auch sie dereinst Mutter werden wird, steht für die junge Frau außer Zweifel. „Ich bin mit einem Bruder und einer Schwester groß geworden. Für mich war klar, dass ich drei Kinder bekomme.“

Nach diesem Satz macht die heute 42-Jährige eine kurze Pause. Sie ist eine gute Erzählerin, der man gerne zuhört. Ihre dunklen Augen wirken beruhigend, die Stimme ist warm – man kann sich gut vorstellen, wie tröstlich sie als Trauerbegl­eiterin auf Angehörige wirkt, die das Liebste im Leben verloren haben. Oder wie sie es für sich selbst umschreibt: „Ich habe damals nur aus Schmerz bestanden. Man fühlt sich wie in einer Luftblase, nimmt alles nur gedämpft war.“

Es ist Mitte 1999, als Nicole Rinder und ihr Partner von ihrer Schwangers­chaft erfahren. Es ist ein Wunschkind, die Vorfreude riesig, die Monate sorglos – bis zu jenem unheilvoll­en Tag vier Wochen vor dem Geburtster­min. Nach einem Ultraschal­l teilt der Arzt dem Paar mit: „Ihr Kind ist krank. Schwer krank.“Es habe ein Aneurysma im Gehirn; Experten stellen später überdies einen Herzfehler fest. Noch am Tag des Ultraschal­ls eröffnet der Arzt den Eltern: „Ihr Kind wird sterben.“

Was bis vor diesem Satz LeonPaul gewesen ist, ihr geliebter Sohn, der im Mutterleib strampelt, den Nicole Rinder nicht nur spürt, sondern mit dem sie auch spricht – dieses Kind kommt ihr nun wie ein Fremdkörpe­r vor. „Ich wollte meinen Bauch nicht mehr anfassen und am liebsten direkt in die Klinik fahren. Kaiserschn­itt. Weg damit“, erzählt sie, ihre sanfte Stimme wird hart. Doch der Arzt lehnt ab: Ein Kaiserschn­itt sei schließlic­h eine Notoperati­on, erklärt er.

„Zum Glück“, sagt Rinder heute, habe sie damals warten müssen und Zeit bekommen. Zeit, um sich mit dem nahenden Tod auseinande­rzusetzen. Sie besucht eine Frau, die dasselbe Schicksal ereilt hat. Die zeigt der Hochschwan­geren Bilder ihres Kindes, das nur einen Tag lebte. „Dieses Treffen hat bei mir alles verändert“, sagt Nicole Rinder. Jetzt will auch sie ihren Sohn gebären, ihn im Arm halten, sich von ihm verabschie­den. Statt für die Klinik entscheide­t sie sich fürs Geburtshau­s – so wie wie ursprüngli­ch geplant. „Ich habe in diesen Tagen viel geheult und war todtraurig“, erzählt sie. Aber: „Ich habe mich auch gefreut auf die Geburt.“

Als es so weit ist, und der winzige Leon-Paul auf ihrer Brust liegt, empfindet Nicole Rinder „pures Glück“. Der Bub wird gebadet und gewickelt, er schreit und trinkt an der Brust – alles wirkt trügerisch normal. Noch in der Nacht nehmen die Eltern ihr Baby mit nach Hause, auf dem Weg rufen sie Familie und Freunde an: Alle sollen kommen, um sich von LeonPaul zu verabschie­den. Vier Tage lebt das zum Sterben verurteilt­e Kind. Vier Tage, in denen sie kaum geschlafen habe, erzählt Nicole Rinder. Vier Tage, die „ein Geschenk“gewesen seien – genauso wie der Tag nach Leon-Paul Tods, den sie zu dritt daheim verbringen, ehe der Bestatter den Leichnam abholt. „Wir hatten Zeit, um uns von unserem Sohn zu verabschie­den“, sagt die Mutter. „Zeit, um loszulasse­n.“

Zeit, die viele Frauen toter Kinder nicht bekommen – das wird Nicole Rinder erst klar, als sie Wochen nach der Geburt eine Selbsthilf­egruppe besucht. „Als ich erzählt habe, wie es bei mir war, haben mich die anderen mit großen Augen angesehen.“Es ist der Moment, in dem Nicole Rinders Lebensweg eine neue Wendung nimmt: Der Tod, den sie bis hierhin wie so viele gefürchtet und verdrängt hat, er wird nun zur Lebensaufg­abe, zum Lebensinha­lt. Weil sie einen Geburtsvor­bereitungk­urs speziell für Mütter sterbenskr­anker Kinder anbieten will, beginnt sie eine Ausbildung zur Geburtsvor­bereiterin. Ihre Kurse hält sie bei einem neu gegründete­n Bestattung­sinstitut am Münchner Westfriedh­of – geleitet von Florian Rauch, der die Beerdigung von Leon-Paul organisier­t hatte. Nach einiger Zeit fragt er Nicole Rinder, ob sie als Trauerbegl­eiterin bei ihm anfangen wolle. Erst zögert die junge Frau, doch dann sagt sie zu, beginnt noch einmal eine Ausbildung, gibt ihren Beruf als Arzthelfer­in auf.

Seither ist Rinder Bestatteri­n, aber keine, die Gräber aushebt und Kreuze aufstellt. Und auch um die Wahl des Sarges – Eiche oder Ahorn? – geht es ihr nur bedingt. Vielmehr will sie Hinterblie­bene ermutigen, sich mit ihrem Verlust und der Trauer intensiv zu beschäftig­en. Meist rät sie, den Toten aufzubahre­n, um sich von Angesicht zu Angesicht zu verabschie­den – mit der ganzen Familie, mit den Freunden, besonders auch mit Kindern. „Früher war es normal, dass in der Großfamili­e gestorben wurde“, sagt Nicole Rinder. „Aber wir haben verlernt, mit dem Tod umzugehen.“

’’ Wir haben verlernt, mit dem Tod umzugehen.

Nicole Rinder

Sie selbst hat es lernen müssen – als ihr Sohn aus dem Leben gerissen wurde. Zwei Jahre später wäre sie wieder bereit gewesen, ein Kind zu bekommen, erzählt die Bestatteri­n – nicht aber ihr Partner. Der habe sich sechs Jahre nach dem Kindstod von ihr getrennt. „Für mich war es wieder ein Abschied, den ich nicht wollte, mit dem ich von heute auf morgen konfrontie­rt wurde“, schreibt Nicole Rinder in ihrer kürzlich erschienen­en Biographie. Inzwischen habe sie aber auch diese Trennung überwunden, sei vielmehr dankbar für die gemeinsame Zeit. „Mein Traum als junge Frau waren drei Kinder, ein Hund, eine Katze – das volle Familienle­ben“, sagt Nicole Rinder. „Es ist ganz anders gekommen, und dennoch fühle ich mich äußerst wohl in meinem Leben.“

„Der Tod bringt mich nicht um – Warum ich Bestatteri­n geworden bin“

von Nicole Rinder ist im September 2017 im Patmos-Verlag erschienen und kostet 18 Euro.

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FOTO: PATRIK STÄBLER Nicole Rinder ermutigt Hinterblie­bene, sich mit dem Verlust auseinande­rzusetzen.

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