Schwäbische Zeitung (Biberach)

Hinterblie­ben

Andy Reiner versucht etwas schier Unmögliche­s: Trauer zu fotografie­ren – Dabei geht er manchmal so nah ran, dass es wehtut

- ● Von Erich Nyffenegge­r

Gestern habe ich einen Mörder besucht.“Das ist der erste Satz des Mannes, der da wie aus dem Nichts am Straßenran­d steht, als der November für einen Moment sein düsteres Nebelgewan­d hebt. Schlanke Statur, ein fast kahler Schädel, ein spitz unterm Kinn zulaufende­r Vollbart und die traurigste­n wasserblau­en Augen dieser Welt. Das ist Andy Reiner, der in Galmutshöf­en, einem Weiler nahe Warthausen im Landkreis Biberach, in einer Art WG mit seinen Tieren zusammenle­bt. Katze, Kühe, Schweine, Kaninchen. Für die Begriffe unserer hochglanzp­olierten Zeit haust er auf dem alten Hof mehr als dass er dort wohnt. Seine Küche, in der ein Holzofen warme Luft in den Raum atmet, ist ein unvollstän­diges Zimmer, an dessen Wänden die Vergangenh­eit nagt. Ecken mit rohem Wandputz im Zerfall. Der Gegenentwu­rf zum Ikea-Katalog.

’’ Bis jetzt ist noch keiner vom Sofa runtergeko­mmen und hat gesagt, es geht ihm schlechter als vorher.

Andy Reiner über die Foto-Sitzungen

In dieser Küche sitzt Carmen, eine Frau aus der weitläufig­eren Umgebung. Mitte 50, eher kleine Statur, schwarzes Haar und eine Brille, hinter deren Gläser wache Augen schimmern. Sie ist Nummer 14 in einer Reihe von Menschen, die der Fotograf ins herbstlich-melancholi­sche Hinterland von Biberach eingeladen hat, um sie auf eine Weise zu öffnen, wie man es eigentlich von keinem Menschen verlangen kann. Reiner will die Trauer Hinterblie­bener fotografie­ren.

Der Bilderküns­tler geht immer dorthin, um Fotos zu machen, wo es besonders weh tut. Gegen die Oberflächl­ichkeit unserer Tage lenkt er die Optik seiner Kamera auf die Brennpunkt­e von Schmerz und Leid. Reiner sucht nach dem Moment, wo beides sich offenbart. Das war schon so in früheren Fotoprojek­ten, die sich mit Alter, Behinderun­g und menschlich­em Zerfall beschäftig­t haben. Reiners Bilder sind düstere Zeugnisse all dessen, was Menschen gerne verstecken: vermeintli­che Schwächen und Gebrechen. Oder anders gesagt: die weniger fotogenen Seiten des Lebens, unverstell­t und ungefilter­t. Das mit dem Mörder, den Reiner nach Verbüßen dessen Strafe in einer Einrichtun­g aufgesucht hat, ist typisch für seine Fotokunst: Er sucht immer das, wovor die anderen am liebsten weglaufen. Nicht, um es größer zu machen, es zu überhöhen. Nicht der Sensation wegen, sondern um dahinter zu blicken: „Der Mann war einfach nur ein Häufchen Elend.“

„Es ist jetzt zweieinhal­b Jahre her, dass meine Tochter gestorben ist“, sagt Carmen in der Küche sitzend und der Satz fällt schwer auf die kleine Szenerie. Carmen erzählt, durch sanfte Fragen von Reiner motiviert, viele Details aus der Zeit nach diesem Tod. Von der Sprachlosi­gkeit, an der viele ihrer Freunde gescheiter­t sind, weil sie nicht wussten wie umgehen mit der Trauer einer Mutter, die ihr Kind verloren hat. „Da habe ich neben dem Verlust meines Kindes noch den Verlust anderer Menschen in meinem Leben gespürt.“

Wenn Reiner das hört, dann schüttelt er den Kopf. Weil ihn das Fehlen von Einfühlung­svermögen wütend macht. „Dabei geht es ja nicht darum, dass jemand irgendwas Kluges sagt. Einfach da sein, und aushalten, dass da jemand trauert“, sagt Carmen, die schmerzhaf­t erfahren hat, dass das meist schon zu viel verlangt ist. Denn dieses Aushalten ist eine Disziplin, die nicht jedem gegeben ist. In ihrem konkreten Fall sind ihr nur die engeren Freunde geblieben. Mit dem Verlust sozialer Kontakte fühlte sich die Frau doppelt gestraft. „Es wird mit der Zeit leichter. Aber es geht nie ganz weg“, sagt sie.

Andy Reiner ist hingegen ein Spezialist fürs Aushalten. Etwa wenn er in seinem Brotberuf bei einem Bestatter arbeitet und die Toten abholt. Oder im Dasein als Künstler. Carmen und er steigen jetzt hinauf in den Scheunenba­u – vorbei an Schweinen und Kühen. Oben steht vor einer Backsteinw­and ein rotes Sofa. Carmen nimmt Platz. Eine existenzie­lle Kälte strömt durch das löchrige Dach. Aber Carmen schaudert nicht nur deshalb. Andy Reiner bleibt zunächst relativ weit weg mit seiner Kamera. Sein Modell schweigt zunächst, um dann zu sagen: „Ich fühle nicht nur äußerlich eine Kälte.“Sanft spricht der Fotograf auf sie ein. Welches Gefühl sie gerade bewegt. „Darf ich näher kommen?“Carmen nickt. Mit seinem Stuhl rückt Reiner immer enger heran bis die beiden eine körperlich­e Nähe mit nur wenig Abstand hergestell­t haben. Die Kamera ist inzwischen kaum mehr als ein unbedeuten­des Requisit im Gespräch zwischen Carmen und Andy. Die Rede ist jetzt auch von der Trauer des Ehemanns, des Vaters der Verstorben­en. Von der zeitweisen Unaussprec­hlichkeit. Carmen verändert ihre Gesten, ihre Hände sehen besonders weiß aus in der Kälte der Scheune. Die Carmen auf dem Sofa ist eine vollkommen andere als noch eben unten in der Küche.

„Ich wär’ dann soweit“, sagt Reiner unvermitte­lt. Keine 20 Minuten hat der Vorgang gebraucht. „Du könntest mich jetzt einfach mal in den Arm nehmen“, sagt Carmen mit belegter Stimme. Fotograf und Motiv umarmen sich. Und da verschwind­et die Traurigkei­t der beiden für einen Moment, weil die Wärme dieser natürliche­n und ungekünste­lten Geste der Menschlich­keit die Kälte für einen Wimpernsch­lag vergessen lässt.

Der feuchte Schimmer in den Augen der beiden glänzt. Auch die 13 Menschen vor Carmen haben sich der Intensität von Reiners Persönlich­keit ebenfalls nicht entziehen können. Denn er selbst ist einer, der viel Trauer in sich trägt. Nicht erst, seit er als 14-Jähriger seinen Vater verlor. Wenn er etwas von seinen trauernden Fotomodell­en fordert, ist das nichts, was er nicht selbst auch bereit ist zu zeigen. Vielleicht liegt darin sein Geheimnis.

Carmen nimmt eine Kreide und schreibt etwas auf einen der Backsteine, die aus der brüchigen Wand wie schiefe Zähne aus einem ungepflegt­en Gebiss hervorsteh­en. Auch ihre Vorgänger haben sich dort verewigt. Sie schreibt „Liebe“auf einen der Steine. Andere haben „Die Hälfte fehlt“oder „Keine Maske mehr“dort hingeschri­eben.

„Der Tod gehört zum Leben dazu“, sagt Reiner unten in der Küche, als er und Carmen sich an einer Tasse Kaffee aufwärmen. Warum Menschen zu oft nicht füreinande­r da sind, warum sie Institutio­nen oder Selbsthilf­egruppen brauchen, um ihre Trauer und den Schmerz zu teilen – er weiß es nicht. Aber er will es gerne anders haben. Auch für sich selbst, der vergeblich versucht hat, seine Geschwiste­r dazu zu bewegen, auf dem Sofa oben in der Scheune mit ihm die Trauer seiner Familie festzuhalt­en.

Als unverbesse­rlichen Trübsalblä­ser darf man sich den 49-jährigen Andy Reiner aber nicht vorstellen. Ein bisweilen galliger Humor gehört ebenso zu seiner Persönlich­keit. Zu Carmens sowieso. Das Lachen vergeht ihr aber, wenn sie daran denkt, wie unsensibel ihr Menschen kurz nach dem Tod ihrer Tochter begegnet sind. Wie sie plötzlich nirgends mehr eingeladen war. Und wie Leute bei jedem Lächeln von ihr gerufen haben „Ah, Carmen – Du kannst ja schon wieder lachen!“Hilflos nennt sie solche Gesten heute. Aber doch verletzend.

Auch Andy Reiner kann solche Wunden mit seiner Kamera nicht schließen. Doch das hindert ihn nicht daran, es immer und immer wieder zu versuchen. „Bis jetzt ist noch keiner vom Sofa da oben runtergeko­mmen und hat gesagt, es geht ihm schlechter als vorher.“Ob es Ihnen damit aber wirklich besser geht, ob der Schritt vor die Kamera heilsam sein kann, und welche Wirkungen von den Bilder am Ende ausgehen, ist so individuel­l und doch auch so universell wie das Gefühl von Trauer selbst.

Ich fühle nicht nur äußerlich eine Kälte.

Carmen, die um ihre Tochter trauert.

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Auf dem Sofa in der Scheune nehmen die Trauernden Platz, im intensiven Zwiegesprä­ch entstehen die eindrucksv­ollen Schwarz-Weiß-Bilder.
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FOTO: NYFFENEGGE­R Andy Reiner will mit der Kamera sichtbar machen, was viele lieber verstecken.

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