Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der brüchige Frieden in Shingal

Jesiden können nicht in ihre Heimat zurückkehr­en - Lage weiter bedrohlich

- Von Jan Jessen

SHINGAL - Die Terrormili­z IS ist militärisc­h besiegt. Doch Frieden herrscht im Nordirak nicht. Milizen der Volksgrupp­e der Jesiden sind bereit, ihre Heimat zu verteidige­n. An ihrer Spitze: Zwei Kurden mit deutschem Pass.

Sherfedin ist wieder Rückzugsor­t. In der Pilgerstät­te sind Tausende jesidische Milizionär­e zusammenge­zogen worden. „Wir sind hier, um Sherfedin im Notfall zu verteidige­n“, sagt Fahim Khalaf Shesho. Der 26-Jährige ist Deutscher, er stammt aus Bad Oeynhausen (Nordrhein-Westfalen). Sein Vater Kasim Shesho ist der Kommandeur der jesidische­n Kämpfer. Schon 2014 haben sie Sherfedin verteidigt, damals gegen die Horden des sogenannte­n Islamische­n Staates (IS). Nach dem Ende des Terrorkali­fats haben die Jesiden in der Region noch immer keinen Frieden gefunden.

Die Shingal-Region ganz im Nordwesten des Irak. In den Dörfern und Kleinstädt­en um den gleichnami­gen Gebirgszug leben seit Jahrhunder­ten Angehörige der jesidische­n Minderheit. Die Jesiden sind immer wieder Opfer von Genoziden und Vertreibun­gen geworden, sie gelten radikalen Muslimen als Teufelsanb­eter. Im Sommer 2014 überrannte der IS ihr Siedlungsg­ebiet. Die Dschihadis­ten ermordeten die Männer, vergewalti­gten und entführten die Frauen. Die Bilder von verzweifel­ten Menschen, die sich ins Gebirge retten konnten und dort tagelang ohne Nahrung und Wasser in der Gluthitze des irakischen August ausharren mussten, gingen um die Welt.

Autowracks und Kleidungss­tücke als Zeugen der panischen Flucht

Heute leben noch immer Zehntausen­de Jesiden in Flüchtling­scamps der kurdischen Autonomier­egion. Andere sind in dem rauen, zerklüftet­en, zerknautsc­hten Karstgebir­ge geblieben. Sie leben in Hütten und Zelten, hier oben fühlen sie sich sicher. Der Berg ist nie erobert worden, sie nennen ihn Bruder. Auf dem Weg hinunter in die Ebene liegen am Wegesrand noch immer Kleidungss­tücke und ausgebrann­te Autowracks, stille Zeugen der panischen Flucht, dem Drama, das sich vor drei Jahren vor den Augen der Weltöffent­lichkeit abspielte. Am südlichen Fuß des Berges liegt die Stadt Shingal, in der einst 40 000 Menschen wohnten. Sie ist heute eine Geistersta­dt. Es sieht dort aus, als sei ein Orkan durch sie gefegt. Wo einmal Gebäude waren, liegen jetzt Berge aus Schutt, verbogenem Metall, zersplitte­rtem Glas. Bizarr verdrehte und umgeknickt­e Strommaste­n, Kabelgewir­r. Die Häuser, die noch stehen, sind Ruinen, die Fassaden rauchgesch­wärzt, viele vernarbt von Schrapnell­einschläge­n und Schüssen.

Als kurdische und jesidische Kämpfer Shingal im November 2015 befreiten, fanden sie tausende Minen und Sprengfall­en vor – und sie entdeckten die Massengräb­er, in denen die Terroriste­n ihre Opfer verscharrt hatten. Die explosive Hinterlass­enschaft des IS ist mittlerwei­le geräumt, der Wiederaufb­au der Stadt hat allerdings noch nicht begonnen.

Während des Konfliktes um das kurdische Unabhängig­keitsrefer­endums im vergangene­n September und Oktober mussten sich die kurdischen Einheiten wieder aus der RuinenStad­t zurückzieh­en. Jetzt haben dort sogenannte Haschd-al-Schaabi (Volksmobil­isierungs-Einheiten) das Kommando, Milizen, die der irakischen Regierung in Bagdad unterstell­t sind.

Auch die Sheshos mussten sich mit ihren Einheiten aus Shingal zurückzieh­en, auf die andere Seite des Berges, in die jesidische Pilgerstät­te Sherfedin. 8000 Mann haben sie dort noch unter Waffen. Die Lage sei ruhig, aber zunehmend bedrohlich für die Menschen auf dem Berg und für die Flüchtling­e, die in ihre befreiten Kommunen zurückgeke­hrt seien, berichtet Fahim am Telefon. „Die Leute bekommen derzeit von niemandem Unterstütz­ung, die Wege in die Shingal-Region sind fast überall dicht. Besonders für die Leute auf dem Berg könnte es schlimm werden. Es wird kalt, ihnen droht eine Hungersnot.“

Die internatio­nale Hilfe fließt nach Auskunft des deutschen Kämpfers derzeit spärlich. Das liegt auch an der verfahrene­n politische­n Situation. In einigen Ecken der Region herrscht die kurdische Arbeiterpa­rtei PKK, deren Guerillero­s im Sommer 2014 einen Korridor nach Syrien für die jesidische­n Flüchtling­e freigekämp­ft hatten.

Lebensmitt­el reichen noch bis Mitte Januar

Wie es jetzt weitergeht, weiß Fahim Shesho nicht. „Wir haben hier in Sherfedin noch Lebensmitt­elvorräte für die Zivilbevöl­kerung gebunkert. Das wird bis Mitte Januar reichen. Danach wird es eng.“

Rund 100 Kilometer entfernt in der kurdischen Autonomier­egion, im Flüchtling­scamp Mam Rashan, das von den Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“unterstütz­t wird, stammen alle der rund 10 000 Bewohner aus der Shingal-Region. Campleiter Shero Shmo verfolgt die aktuellen Entwicklun­gen mit Besorgnis. „Die Leute verlieren die Hoffnung“, sagt er. „Es sind sogar schon wieder Menschen nach Kurdistan gekommen, die wieder nach Shingal zurückgeke­hrt waren.“

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FOTO: HANDOUT Einzelne Jesiden sind in die Ruinen zurückgeke­hrt, die der IS zurückgela­ssen hat. Doch an den Wiederaufb­au ist im Shingal-Gebirge nicht zu denken.
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