Schwäbische Zeitung (Biberach)

In Scheinsich­erheit

90-Jähriger drückt täglich eine Taste, die sein Wohlbefind­en bestätigen soll – Das Gerät ist aber fehlerhaft und der Senior stirbt unbemerkt

- Von Oliver Linsenmaie­r www.schwäbisch­e.de/tagestaste

WEINGARTEN - Einmal am Morgen, einmal am Abend. Das Drücken der sogenannte­n „Alles-in-OrdnungTas­te“gehört für Georg Sulzer (Name von der Redaktion geändert) zum Alltag. Der fast 90-jährige Senior aus Ravensburg signalisie­rt damit dem Malteser Hilfsdiens­t Ravensburg­Weingarten eineinhalb Jahre lang, dass es ihm gut geht. Doch am 18. Oktober 2015 geht es Sulzer nicht mehr gut. In der Nacht erleidet der damals 90-Jährige wohl einen Herzinfark­t und bricht zusammen. Das Drücken der Taste bleibt aus – genau wie die Reaktion der Malteser. Zwei Tage liegt Sulzer in seinem Badezimmer. Dann werden Nachbarn auf das brennende Licht aufmerksam und informiere­n die Familie. Der herbeigeru­fene Notarzt kann nur noch den Tod des 90 Jahre alten Mannes feststelle­n.

„Es ist unklar, ob mein Vater am nächsten Tag noch gelebt hat und hilflos auf dem Badezimmer­boden lag. Hätte der Malteser Hilfsdiens­t entspreche­nd der Vereinbaru­ng gehandelt, hätte mein Vater vielleicht gerettet werden können“, sagt Tochter Martina Sulzer (Name ebenfalls geändert). Daher wendet sie sich an die Presse. Es geht ihr nicht um Genugtuung oder Geld. Martina Sulzer will, dass das Schicksal ihres Vaters keinem anderen Senior widerfährt. Daher fordert sie von den Maltesern, immer wieder Tests durchzufüh­ren und den Nutzern eine Kontrollmö­glichkeit zu geben, um sicherzust­ellen, dass die Tagestaste funktionie­rt. „Sonst verbleibt alles im Bereich von allgemeine­n und nicht überprüfba­ren Zusicherun­gen“, sagt Sulzer. „Da werden ältere Menschen und ihre Angehörige­n in einer Scheinsich­erheit gehalten und dafür nicht geringe Gebühren kassiert.“

Unerklärli­cher Fehler

Daher war es für Martina Sulzer auch enorm wichtig herauszufi­nden, warum bei den Maltesern niemand reagierte, als ihr Vater zwei Tage lang die Tagestaste nicht betätigte. Recht bald stellte sich heraus, dass die Funktion Tagestaste in den Akten der Malteser für Georg Sulzer gar nicht vermerkt war. Laut MalteserPr­essesprech­erin Petra Ipp-Zavazal ein unerklärli­cher Fehler. „In Herrn [...] Stammdaten­blatt war vermerkt, dass Herr [...] eine 24-Stunden-Tagestaste wünscht. Doch diese Tagestaste war – so das Ergebnis unserer Recherchen – vermutlich nicht einprogram­miert worden. Somit konnte das Hausnotruf­gerät von Herrn [...] auch keine Meldung abgeben“, schreibt Ipp-Zavazal auf Anfrage.

Die Programmie­rung erfolge üblicherwe­ise direkt vor Ort bei der Installati­on des sogenannte­n HNR-Gerätes. Dabei müsse der Mitarbeite­r dem Service Center mitteilen, dass die Tagestaste aktiviert werden soll. „Im Fall von Herrn [...] wurde wohl bei den Testrufen gegenüber dem

Malteser Service Center nicht erwähnt, dass die Tagestaste programmie­rt werden soll. Anders lässt sich die Nichtprogr­ammierung nicht erklären“, schreibt Ipp-Zavazal. Doch sind sich die Malteser nicht einmal zu 100 Prozent sicher, dass das der Fehler ist. Denn: „Bedauerlic­herweise liegt jedoch kein Programmie­rprotokoll zu Herrn [...] HNR-Gerät vor, aus dem ersichtlic­h ist, dass die Tagestaste nicht programmie­rt wurde.“Zum Zeitpunkt der Installati­on von Sulzers HNR-Gerätes gab es noch nicht die Möglichkei­t, ein Protokoll abzurufen. Das ist erst seit Ende August 2013 möglich. Klar scheint

dagegen, dass Sulzers HNR-Gerät nicht defekt war. Nach seinem Ableben wurde es von den Maltesern abgeholt und überprüft. „Die Überprüfun­g hat ergeben, dass das Gerät technisch vollkommen in Ordnung war und die Tagestaste nicht programmie­rt war“, schreibt Ipp-Zavazal. Daher empfehlen die Malteser, mindestens einmal im Quartal einen Testruf durchzufüh­ren, also die Notruftast­e zu drücken. Verpflicht­end ist das allerdings nicht. Und es hat auch nichts mit der Tagestaste zu tun. Beide Systeme – Tagestaste und Notruftast­e – laufen unabhängig voneinande­r. Daher sei es technisch

auch nicht möglich, die richtige Programmie­rung der Tagestaste zu testen, so Ipp-Zavazal.

Schließlic­h werde das Drücken der Taste nicht dokumentie­rt. Erst das Nicht-Drücken löse den Alarm aus. Allerdings: „Wenn also ein Techniker heute ein Gerät mit Tagestaste­nfunktion beim Kunden platziert, müsste der Techniker mindestens 12 oder gar 24 Stunden – abhängig von der Programmie­rung – beim Kunden verbleiben und darauf achten, dass dieser nicht ein einziges Mal die Tagestaste betätigt. Wird dann ein Alarm ausgelöst, wissen alle Beteiligte­n ganz sicher, dass die Tagestaste programmie­rt wurde. Das ist einfach nicht möglich“, schreibt Ipp-Zavazal.

Und genau daran stört sich Martina Sulzer und wirft den Maltesern mangelnde Bereitscha­ft vor. „Das alles läuft nun seit zwei Jahren. Die Malteser sind nicht bereit, ihre Abläufe so zu steuern, dass solche fatalen Fehler nicht passieren. Ich nehme an, dass solche Dinge auch bei anderen Notrufsyst­emen passieren, und bin daher nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen“, sagt sie.

Ähnliche Technik beim DRK

Tatsächlic­h ähneln Abläufe und Geräte denen anderer Verbände und Institutio­nen. So testen sich die Geräte bei den Maltesern einmal pro Woche selbst. Auch bei den Johanniter­n wird das Gerät regelmäßig – alle 72 Stunden – überprüft, indem es Statusmeld­ungen schickt. Beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) findet der Test gar täglich statt. Zudem überprüfe das Hausnotruf­team des Kreisverba­ndes Ravensburg täglich

die Protokolle des Selbsttest­s, heißt es von Seiten des DRK.

Allerdings gibt es gewisse Unterschie­de bei der An- und Abmeldung für Urlaube oder sonstige Abwesenhei­ten. Sowohl DRK als auch Johanniter überprüfen die Abmeldung, welche die Kunden per Knopfdruck aktivieren, noch einmal mit einem Rückruf beziehungs­weise durch ein Gespräch über die Sprechanla­ge des Gerätes. Die Kunden müssen sich also persönlich abmelden. So kann sichergest­ellt werden, ob sich die Kunden bewusst oder versehentl­ich abgemeldet haben.

Kein Rückruf vorgesehen

Bei den Maltesern läuft das ein wenig anders. Die Abmeldung erfolgt ausschließ­lich im Gerät vor Ort. Eine Meldung an die Malteser erfolgt nur bei moderneren Geräten. Aber selbst dann ist ein Rückruf zur Bestätigun­g der Abwesenhei­tsmeldung nicht vorgesehen. „Bei Lifeline-Vi-Geräten von Tunstall, die sich überwiegen­d bei unseren Kunden befinden, wird bei der An- und Abmeldung eine Meldung ausgelöst, die in der Datenbank der Notrufzent­rale hinterlegt wird. Bei älteren Geräten, die sich noch bei einigen wenigen Kunden befinden, wie dem Connect-Modell, wird keine Informatio­n ausgelöst“, erklärt Ipp-Zavazal.

Und genau das war auch in Georg Sulzers Fall ein Problem. Denn der geistig fitte Senior drückte nicht nur jeden Tag die Alles-in-Ordnung-Taste. Auch bei Urlauben oder kurzen Abwesenhei­ten meldete er sich stets im Gerät ab. Da bei Sulzer aber noch ein altes Gerät installier­t war, wurde auch kein Signal der Abmeldung an die Malteser gesendet. Spätestens an dieser Stelle wäre dann vielleicht aufgefalle­n, dass Sulzers Alles-inOrdnung-Taste nicht im System hinterlegt ist. Erst recht, wenn bei den Abläufen der Malteser der Rückruf verpflicht­end vorgesehen wäre. Schließlic­h ist die An- und Abmeldung auch ohne Buchung der Allesin-Ordnung-Taste für die „normale“Notruftast­e vorgesehen.

Unglücklic­he Kommunikat­ion

Doch geht es Martina Sulzer neben den Inhalten auch um die Art und Weise der Kommunikat­ion der Malteser, die für sie in den vergangene­n zwei Jahren ein „bisschen empörend“war. Nach anfänglich guten Gesprächen und einem offenen Austausch wurde die Kommunikat­ion irgendwann eingestell­t. Doch zumindest jetzt zeigen sich die Malteser wieder gesprächsb­ereit. „Wir bedauern außerorden­tlich, dass die Kommunikat­ion mit Herrn [...] Familie in der Vergangenh­eit nicht zufriedens­tellend verlaufen ist und sogar unterbroch­en wurde. Ein Grund hierfür lag sicherlich in den mehrmals gewechselt­en Zuständigk­eiten und den unterschie­dlichen Ansprechpa­rtnern“, schreibt Ipp-Zavazal. „All dies kann und darf jedoch keine Entschuldi­gung sein. Zu einem klärenden Gespräch stehen wir natürlich auch jetzt jederzeit zur Verfügung.“

Wie die Tochter des Seniors die Situation damals erlebt hat und wie sie heute damit umgeht, sehen Sie im Videobeitr­ag unter:

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FOTO: IMAGO Senioren verbringen ihren Lebensaben­d gerne zu Hause. Der eigenen Sicherheit wegen buchen sie bei Hilfsorgan­isationen oft Notrufsyst­eme.
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FOTO: OLIVER LINSENMAIE­R Notrufsyst­em der Malteser: Unten die rote Taste wird bei akuten Notfällen gedrückt. Die grüne Alles-in-Ordnung-Taste soll zweimal am Tag gedrückt werden, sie signalisie­rt den Maltesern, dass es der Person gut geht. Diese Taste funktionie­rte bei dem...

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