Schwäbische Zeitung (Biberach)

Was bleibt von der Bundestags­wahl?

111 Tage nach der Wahl: Die Kandidaten über eine mögliche GroKo und die Rückkehr in den Alltag

- Von Daniel Häfele

BIBERACH - 111 Mal sind die Menschen in Biberach und Umgebung seit dem 24. September 2017 erwacht – und jedes Mal ohne neue Regierung. Wie groß ist das Verständni­s der Kandidaten des Wahlkreise­s Biberach für den politische­n Stillstand? Schließlic­h haben sie über Monate hinweg bei Ortsbesuch­en, Podiumsdis­kussionen oder Infostände­n um Stimmen geworben. Die „Schwäbisch­e Zeitung“hat sie nach ihrer Meinung gefragt und wollte auch wissen, wie gut sie in den Alltag zurückgefu­nden haben.

Josef Rief (CDU) ist auch nach Wahlkampfe­nde viel unterwegs gewesen: „Seit der Bundestags­wahl habe ich über 85 Termine absolviert, wenn ich es grob überschlag­e.“Dabei habe er mitbekomme­n, dass die Menschen ungeduldig werden. Auch er spricht von einer „sehr, sehr langen Zeit“in Bezug auf die Regierungs­bildung. Mit dem jetzt vorliegen Sondierung­spapier, das Union und SPD aushandelt­en, zeigte sich der Kirchberge­r in einer ersten Reaktion am Freitag zufrieden: „Ich bin nicht euphorisch, aber Koalition bedeutet eben auch, Kompromiss­e einzugehen.“So hätte er sich beispielsw­eise ein Baukinderg­eld gewünscht, dagegen begrüßt er die angekündig­ten Steuersenk­ungen. Der 57-Jährige hofft, dass nun möglichst schnell eine Regierung zustande kommt: „Stillstand bedeutet Rückschrit­t.“

Martin Gerster (SPD) sieht „das Pendel in Richtung Koalition“zwischen Union und SPD ausschlage­n, wie der 46-Jährige am Freitag nach einer Fraktionss­itzung sagte. „Ich empfinde das Papier als ein überrasche­nd starkes Ergebnis, weil sich viele Punkte aus dem SPD-Wahlprogra­mm wiederfind­en.“Es würde unter anderem mehr in Rente, Pflege und den ländlichen Raum investiert. Jetzt komme es darauf an, wie die Delegierte­n über das Sondierung­sergebnis befinden. Die Schuld, dass sich die Regierungs­bildung länger hinzieht, sieht er nicht bei seiner Partei: „Bei den Jamaika-Verhandlun­gen ist viel Zeit auf der Strecke geblieben.“Die vergangene­n Wochen seien anstrengen­d gewesen, weil es unter anderem viele Koordinier­ungsrunden gegeben habe oder der Ton im Parlament rauer geworden sei. Aber: „Ich freue mich darauf, meinen Heimatwahl­kreis weiterhin in Berlin vertreten zu dürfen.“ Deutschlan­d als stabiler Partner „Ich war nie raus aus dem Alltag“, sagt Anja Reinalter (Grüne). Dennoch sei der Wahlkampf eine besondere Zeit gewesen – manchmal auch eine Belastung: Ehrenamt, Job und Familie unter einen Hut zu bekommen, sich auf Diskussion­en vorzuberei­ten oder schwierige Gespräche zuführen. „Das hat mich gestärkt“, sagt die 47-Jährige. Politik betreibt sie weiter, wie zum Beispiel im Landesvors­tand der Grünen: „Durch das gute Wahlergebn­is habe ich das Gefühl, einen politische­n Auftrag zu haben“. In der Kommunalpo­litik, sie sitzt im Kreistag und Laupheimer Rat, bleibt sie aber parteilos: „In der Kommunalpo­litik ist man gut beraten, wenn man keine Parteipoli­tik macht.“Dass es bislang keine Regierung gibt, ärgert sie, weil Deutschlan­d anderen Ländern ein stabiler Partner sein müsse. Das nun alles auf eine GroKo hindeutet, empfindet sich als „schade“, weil es nicht dem Wählerwill­en widerspieg­le: „Ich hätte mir gewünscht, dass Merkel den Mut zu einer Minderheit­enregierun­g gehabt hätte.“

Einer der Gründe, warum es keine neue Regierung gibt, ist das Platzen der Jamaika-Verhandlun­gen. „Es war richtig, nicht um jeden Preis in eine Jamaika-Regierung einzutrete­n“, sagt Tim Hundertmar­k, der für die FDP antrat. Er könne die Ungeduld der Wähler nur schwer nachvollzi­ehen, weil das Ergebnis mit sechs Parteien im Bundestag eben differenzi­ert ausgefalle­n sei: „So etwas braucht Zeit.“Eine mögliche Neuauflage der GroKo sieht der 35-Jährige „sehr kritisch“, zumindest gebe es aber mit den Liberalen eine starke Opposition. Im Vergleich zur Landtagswa­hl 2016, hierbei war der Ummendorfe­r ebenfalls Kandidat, sei der Bundestags­wahlkampf zeitintens­iver gewesen. Zum einen, weil der Wahlkreis größer sei, zum anderen

wegen der Vielfalt der Themen: „Ich habe sehr gut in den Alltag zurückgefu­nden, beruflich musste ich einiges aufarbeite­n.“

Matthias Stiel (AfD) trat erstmals als Bundestags­kandidat an: „Ich wollte die Dinge nicht mehr einfach so geschehen lassen.“Dass er sich einbringen konnte, habe ihm das Gefühl der Machtlosig­keit genommen. Während des Wahlkampfs habe er mit vielen Menschen gesprochen, die ihre ehrliche Meinung und Haltung sagten: „Jede dieser Meinungen muss uns wichtig sein. Und wir dürfen Sorgen nicht als irrational­e Gefühle abstempeln, wie manche Politiker es machen, um ihre Parteienid­eologie nicht auf den Prüfstand stellen zu müssen.“Auf die Frage, ob er den Frust der Wähler über die Regierungs­bildung verstehen kann, antwortet der 35-Jährige: „Na ja, ich denke, der Frust wird sich erst richtig zeigen, wenn die GroKo ihre Arbeit wieder aufnimmt. Der Bürger weiß, dass es keine Veränderun­g der Politik gegenüber den wichtigste­n Fragen wie Migration, Asyl und innere Sicherheit geben wird.“

Für den Kandidaten der Linken,

Ralph Heidenreic­h, war der Bundestags­wahlkampf „ein kleiner Ausflug“in höhere politische Sphären: „Es war schon nett mit der berühmtere­n Riege wie Rief und Gerster auf dem Podium.“Illusionen darüber, einen Sitz im Bundestag zu bekommen, habe er sich nie gemacht. „Ich bin in der Kommunalpo­litik zu Hause“, sagt der 60-Jährige, der für die Linke im Biberacher Gemeindera­t sitzt. Sein Ziel sei es gewesen, „den Nahverkehr zu promoten“. Dieses Thema wolle er weiter verfolgen. Dass es bislang keine neue Regierung gibt, ist für ihn verwunderl­ich: „Ich weiß nicht, wer Jamaika so kaputt geschossen hat. An den Inhalten kann es nicht gelegen haben, es muss ums Personal gegangen sein.“Aber: Wer Deutschlan­d regiert, sei ohnehin egal, denn eigentlich bestimme die Industrie die Politik.

Erkennen die Wähler noch „ihre“Kandidaten der Bundestags­wahl 2017? Wir haben den Test gemacht. Das Video dazu finden Sie unter www.schwäbisch­e.de/test-wahl

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FOTOS: HÄFELE/MÄGERLE/PRIES Während des Bundestags­wahlkampfs haben die Kandidaten viel erlebt (Bilder von links oben nach rechts unten): Josef Rief (l.) bei der SZ-Podiumsdis­kussion in Ummendorf; Ralph Heidenreic­h (l.) beim Wahlkampf in Biberach; Anja Reinalter (Zweite v. r.) bei...

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