Schwäbische Zeitung (Biberach)
Lohnender Blick ins Geschichtsbuch
Geschichte wiederholt sich nicht. Das ist einer der häufig zu hörenden Glaubenssätze, die Politiker zu Protokoll geben, wenn sie ihre aktuellen Positionen gegen Widersprüche verteidigen wollen oder müssen. Gleichwohl lässt sich wunderbar darüber philosophieren, ob historische Vergleiche sinnvoll sind oder nicht, ob sie heikel sind oder gar blödsinnig. Dennoch hilft bei der Bewertung einer schwierigen politischen Lage häufig ein Blick in die Geschichtsbücher. Denn was Geschichte zweifelsohne leisten kann, ist zu zeigen, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen.
Diese Situation kennt die älteste deutsche demokratische Partei, die SPD, zur Genüge – und deshalb sei auf die Regierung des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller verwiesen. Müller führte die letzte Große Koalition der Weimarer Republik von 1928 bis 1930. Das Bündnis scheiterte in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage daran, dass sich die Demokraten nicht über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung einigen konnten. Anschließend wurde nur noch mit Notverordnungen regiert.
Darf dieser historische Vergleich vorgebracht werden? Er darf, denn auch Deutschland und Europa stehen vor entscheidenden Weichenstellungen. Wer sich in die sozialdemokratische Basis versetzt, kann den Unmut verstehen, der in den vergangenen Monaten und Jahren entstanden ist. Da herrscht Frustration und Ärger über die Positionierung der eigenen Partei und deren Wahlergebnisse. Dennoch lohnt ein kühler Blick auf die Sondierungsergebnisse mit der Union. Auch wenn in den Augen einiger Genossen der große sozialpolitische Wurf nicht gelungen ist, vereinbart ist mehr Gerechtigkeit und mehr soziale Sicherheit. Außenpolitisch besteht aber so viel Spielraum, dass die künftige Regierung gemeinsam mit Frankreich den dringend notwendigen Aufbruch für ein neues Europa startet. Die positiven Reaktionen aus Paris auf die Sondierungen sagen alles. Die SPD muss in ihrer Gesamtheit nun Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, Bauchgefühl hin oder her.
h.groth@schwaebische.de