Schwäbische Zeitung (Biberach)

Psychisch Kranker zündet Zugtoilett­e an

Vor Gericht kommt seine tragische Lebensgesc­hichte ans Licht – Das Urteil bedeutet die vielleicht letzte Chance

- Von Michael Peter Bluhm

ULM - Den Schrecken ihres Lebens erlebten 70 Bahnkunden im September 2016 auf der Strecke StuttgartU­lm. In einem Regionalzu­g brach während der Fahrt ein Brand aus. Die Passagiere und das Personal konnten in letzter Minute gerettet werden. Der Waggon brannte aus, es entstand ein Schaden von einer Million Euro. Jetzt musste sich ein junger Mann wegen schwerer Brandstift­ung und gefährlich­en Eingriffs in den Bahnverkeh­r vor Gericht verantwort­en. Das Urteil lautete zwei Jahre Freiheitss­trafe zur Bewährung, verbunden mit vielen Auflagen.

Am Ende des Verhandlun­gstags lagen sich der junge Mann und seine Mutter im Gerichtssa­al in den Armen. Sie hatte Tränen in den Augen, für ihr Sorgenkind war es um viel gegangen: Die Staatsanwa­ltschaft hatte wegen Gemeingefä­hrlichkeit eine dauerhafte Unterbring­ung in einer psychiatri­schen Anstalt gefordert.

Es war ein Sonntag, als sich der Angeklagte auf der Heimfahrt nach Ravensburg befand, mit Umstieg in Ulm. Er fiel den Zugfahrern durch seine Hörgeräte und durch dauerndes Herumlaufe­n auf. Mehrfach benutzte er Toiletten. Zuletzt ein Behinderte­nklo, in dem sich ein Riesenspie­gel befand, der offenbar eine verhängnis­volle Reaktion beim Angeklagte­n auslöste. „Ich sah ihn und konnte mich nicht mehr kontrollie­ren“, sagte der Mann vor Gericht. Er öffnete den Spiegelsch­rank und zündete Papierhand­tücher an. Die Flammen griffen auf die dahinter installier­te Elektronik über, was wie ein Brandbesch­leuniger wirkte. Der Täter erfasste, was er angerichte­t hatte. Er alarmierte den Zugführer, der die Türen des Zugs öffnete und die Fahrgäste auffordert­e, nach dem Notstopp außerhalb von Jungingen auf freiem Feld auszusteig­en. Die Feuerwehr war schnell vor Ort, konnte aber den Totalschad­en des Steuerwage­ns nicht verhindern. Warum er gezündelt habe, fragte der Richter. Die Antwort: „Es war eine Scheißwoch­e am Ausbildung­splatz.“

Nach der Tat ging der Angeklagte mit einigen Mitfahrern zu Fuß nach Ulm, um von dort weiterzufa­hren. Zunächst glaubten die Bahnexpert­en an einen technische­n Fehler als Auslöser. Dann verdichtet­en sich wegen Zeugenauss­agen die Anzeichen, dass der unruhige junge Mann mit dem Hörgerät der Brandstift­er gewesen sein könnte. Nach anfänglich­em Leugnen gab er die Tat zu. Die ungewöhnli­che Tragik seines Lebens wurde bekannt. Er ist vor 26 Jahren fast taub auf die Welt gekommen. Der Vater verließ die Familie, die Mutter musste allein zurechtkom­men. Der behinderte Sohn fiel im Kindergart­en durch Aggression­en auf, er tötete Tiere und schmierte Kot an Türen. Als seine Mutter nicht mehr weiter wusste, suchte sie Hilfe bei einem Facharzt, der bei dem Sohn organische Persönlich­keits- und Impulskont­rollstörun­gen feststellt­e. Der junge Mann wurde in speziellen Einrichtun­gen untergebra­cht, schaffte den Hauptschul­abschluss an einer Gehörlosen­schule und eine Berufsausb­ildung als Tagesbetre­uer – immer wieder unterbroch­en durch Krankenhau­saufenthal­te. Zu der Zeit, als er den Brand legte, machte er in einer Stiftung für psychisch Kranke eine Ausbildung als Fachlageri­st. Er konnte sie auch nach der Tat fortsetzen und bekam durchgehen­d gute Beurteilun­gen. Das lag daran, dass er in einem psychiatri­schen Krankenhau­s in Erlangen medizinisc­h behandelt wurde, wo wohl die richtige Medikation für ihn gefunden worden war.

Wäre das Gericht dem Antrag der Staatsanwä­ltin gefolgt, hätte der Angeklagte seine Lehre im Sommer dieses Jahres nicht beenden können. So gab das Gericht dem nicht einschlägi­g vorbestraf­ten jungen Mann eine letzte Chance: durch eine Bewährungs­strafe mit verbindlic­hen Auflagen – obwohl die Prognosen laut psychiatri­schem Gutachter bei diesem Krankheits­bild nicht rosig sind.

Newspapers in German

Newspapers from Germany