Schwäbische Zeitung (Biberach)
Neue Rezepte gegen Sprachlosigkeit
Wie Erzieherinnen künftig auf schlechtere Deutschkenntnisse der Erstklässler reagieren
ULM - Mehr als 38 Prozent der Kinder, die in Ulm 2016 eingeschult wurden, konnten kein oder kaum Deutsch. Im Vorjahr waren es sogar fast 50 Prozent. Um den Schulanfängern mit „intensivem Sprachförderungsbedarf“schon im Vorfeld den Einstieg in das schulische Leben zu erleichtern, packt die Ulmer Industrieund Handelskammer (IHK) das Problem derart tief an der Wurzel, dass sich auch das Kultusministerium beeindruckt zeigt. Es sei „bemerkenswert und ausgezeichnet“, wie in Ulm der Boden für das Pflänzchen Bildung frühzeitig bereitet werde, sagte Staatssekretär Volker Schebesta
Das Land wolle die vorschulische Sprachförderung als Reaktion auf die Ergebnisse der jüngsten GrundschulLeseuntersuchung intensivieren. „Unser Konzept kann hierfür als Blaupause dienen“, sagt Otto Sälzle, der Hauptgeschäftsführer der IHK. Anstatt „irgendeinem Projektle“, wie es Sälzle ausdrückte, habe man bewusst einen grundlegenden Ansatz gewählt. Und dieser sieht vor, tief in den Lehrplan der Erzieherinnenausbildung einzugreifen. Die IHK beauftragte das Mannheimer Zentrum für empirische Mehrsprachigkeitsförderung (MAZEM), neue Lehrplaninhalte
für sämtliche Fachschulen für Sozialpädagogik im Bereich der IHK Ulm (Ulm, Biberach, Ehingen) zu entwickeln und gleich in den drei Fachschulen der Region umzusetzen. Das Ziel: Eine nachhaltigere Sprachförderung des Nachwuchses. „Eine deutliche Professionalisierung der frühkindlichen Sprachförderung ist dringend notwendig“, sagt Sälzle. Es gebe einen erschreckend hohen Anteil von Kindern mit Sprachförderbedarf, den es zu reduzieren gelte. Sowohl aus mitmenschlicher Sicht als
auch zur Verbesserung der Standortfaktoren, was die Aufgabe der IHK sei. Zielgruppe sind nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch aus sozial und bildungsbenachteiligten Familien, die durch das Konzept beim Erwerb der deutschen Sprache unterstützt werden.
„Sprache macht stark“heißt der Ansatz, der auch wissenschaftlich begleitet wurde. Das Ergebnis: Er wirkt. Denn per computergestütztem Testverfahren („Sprachförderkompetenz pädagogischer Fachkräfte“) wurden Fachschulklassen in Faktoren wie Sprachdiagnostik und Sprachförderung standardisiert gemessen. Die wissenschaftliche Evaluation der Universität Mannheim zeige, dass sich die Handlungskompetenzen der Fachschüler schon nach einem Jahr signifikant verbessert hätten.
Die Folge davon, die sich Sälzle erhofft: Kinder mit besser entwickelten Sprachkenntnissen besuchen künftig die Schulen in der Region, weil sie von ihren Erzieherinnen besser gefördert werden. Im Vergleich zur Kontrollgruppe wies die Projektgruppe eine tendenziell höhere Sprachförderkompetenz auf.
Dazu gehöre etwa auch ein Verständnis dafür, dass bei Kindern mit Migrationshintergrund das Mischen von Sprachen kein Alarmsignal sei, sondern eine völlig normale Entwicklung, wie Professor Rosemarie Tracy betont. Grundsätzlich seien Kinder, die von frühester Kindheit an mit zwei Sprachen konfrontiert werden, nicht überfordert. „Sprache macht stark“sei auch als Anstoß für die Erzieherinnen gedacht, sich über das Erlernen von Sprache Gedanken zu machen. Durch das Projekt hätten die Erzieherinnen ein besseres Wissen darüber, wann Hilfe von Logopäden notwendig sei und was als normal zu bewerten ist.