Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die letzten Mohikaner
Die Bad Reichenhaller Philharmoniker feiern 150-jähriges Bestehen – Das letzte Kurorchester weit und breit hat ein umfangreiches musikalisches Spektrum
BAD REICHENHALL (dpa) - Sie können alles – große Sinfonien, Oper, Operette, Jazz, Musical oder Filmmusik. Bei den samstäglichen Kurkonzerten dürfen sich die Zuhörer aus einer Liste von fast 500 Werken ihre Wunschmusik aussuchen. Die Bad Reichenhaller Philharmoniker spielen sie. Eines der vielseitigsten Orchester im deutschsprachigen Raum und das weit und breit letzte Kurorchester in sinfonischer Besetzung wird dieser Tage 150 Jahre alt. Gefeiert wird das ganze Jahr, doch Höhepunkt ist der Jubiläumsfestakt am heutigen Dienstag.
Konzentriert und mit dem Taktstock dirigierend sitzen künftige Musiklehrer in der Konzertrotunde des oberbayerischen Kurortes und schauen auf ihren Kommilitonen Jakob Albert von der Münchner Musikhochschule auf dem Podium. Der 21-Jährige bemüht sich redlich, ein Concertino für Tuba und Streicher von Jan Koetsier aufführungsreif mit den Philharmonikern einzustudieren. Am Abend wird Albert es bei einem Konzert unter dem Motto „Bühne frei für junge Künstler“vor Publikum dirigieren.
Auch das ist eine der Aufgaben des gut 40 Musiker umfassenden Ensembles: Lehrorchester für Dirigierschüler zu sein. Professor Ulrich Nicolai, der die Studierenden betreut, schwärmt von der Erfahrung und dem Sanftmut der Reichenhaller Instrumentalisten. „Die Philharmoniker sind sehr freundlich im Umgang mit dem Nachwuchs.“
Noch bevor berühmte Orchester in Musikmetropolen damit begannen, Kinder und Jugendliche für klassische Musik zu interessieren, boten die Bad Reichenhaller Philharmoniker Schülerkonzerte an. Jüngstes Projekt: die Patenschaft für das örtliche Karlsgymnasium, mit dessen Schulorchester es künftig einen regelmäßigen Austausch geben wird.
Gegründet wurden die Philharmoniker am 6. Februar 1868 von Josef Gung’l. Im selben Jahr wurde auch der Königliche Kurgarten des Ortes errichtet. Der Königlich Preußische Musikdirektor sollte in dem aufstrebenden Kurort nahe der österreichischen Musikmetropole Salzburg ein Orchester etablieren, das für die Erholung suchenden Gäste anspruchsvolle Werke aufführt.
Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn das Orchester längst Sinfoniekonzerte gibt, MozartTage und ein Operetten-Festival veranstaltet. Zum 100-jährigen Bestehen des Freistaats Bayern in diesem Jahr führt es zudem Werke von hierzulande wirkenden Komponisten wie Richard Wagner, Richard Strauss oder Carl Orff auf. Gastspiele in München und Salzburg kommen dazu. Doch an sechs Tagen die Woche erfüllen die Philharmoniker nach wie vor ihren Auftrag als Kurorchester.
Auch Ingrid Schrader von der Gruppe der nicht staatlichen Kulturorchester in Bayern schätzt die Bad Reichenhaller Philharmoniker wegen ihres breit gefächerten Repertoires: „Sie sind eine wichtige Institution im südostbayerischen Raum.“
Offen für U- und E-Musik
Flötist Andreas Schmidt kam vor vier Jahren zu den Philharmonikern. Der 53-Jährige schätzt die Vielfalt des Repertoires im Orchester. „Wir spielen Barockmusik genauso wie zeitgenössische Werke. Ich kann mich hier einbringen, wie ich will.“Die Trennung von U- und E-Musik – wie in der Branche leichte Kost und Klassik unterschieden werden – gibt es nicht. „Wir haben eine wahnsinnig große Bandbreite“, sagt die 42-jährige Cellistin Barbara Eger, die dem Orchester seit 16 Jahren angehört.
Chefdirigent Christian Simonis gilt als exzellenter Kenner anspruchsvoller Kurmusik. „Wir sind das einzige Orchester, das die im 19. Jahrhundert entstandene Tradition, von der Sinfonik bis zur Unterhaltungsmusik alles zu spielen, heute noch pflegt“, sagt der 61-Jährige. Die Philharmoniker seien aber ebenso Pioniere bei der Förderung junger Solisten und Dirigenten.
Geschäftsführer Felix Breyer managt das Orchester. Als Kulturträger für den südostbayerischen Raum werden die Philharmoniker vom Freistaat Bayern, Bezirk Oberbayern, Landkreis Berchtesgadener Land und der Stadt Bad Reichenhall finanziell gefördert. Immerhin 30 Prozent des Jahresetats von gut drei Millionen Euro spielt das Orchester durch seine Auftritte ein.
Gefeiert wird das Jubiläum heute mit einem Festakt im Königlichen Kurhaus. Für den guten Ton sorgt das Geburtstagskind selber: Es spielt unter anderem einen Walzer seines Gründers Josef Gung’l und die Fantasie für Klavier, Chor und Orchester in c-Moll von Ludwig van Beethoven – U- und E-Musik eben.