Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die „Linie 1“erreicht ihre Endstation

Kultkneipe am Ulmer Bahnhof geschlosse­n – Abriss des Gebäudes Bahnhofspl­atz 7 beginnt

- Von Ludger Möllers

ULM - Bahnhofskn­eipe, Urgestein der Ulmer Kneipensze­ne, Kultkneipe: Im Gespräch über die „Linie 1“, jenes verräucher­te Lokal direkt gegenüber vom Ulmer Hauptbahnh­of, schwingen stets Emotionen mit. Seit Ostersonnt­ag sind es nur noch Erinnerung­en: Denn am Samstagabe­nd schloss die „Linie 1“nach 22 Jahren für immer. Das Gebäude mit der Adresse Bahnhofspl­atz 7, in dem die Kneipe im Erdgeschos­s zu Hause ist, wird abgerissen. Im Zuge des Sedelhof-Projekts entsteht dort ein Hotel. „Linie 1“wird am kommenden Wochenende als „PP 1“am Neu-Ulmer Petrusplat­z neu eröffnen. Auch die Ärzte, die am alten Standort fünf Praxen betrieben, haben mittlerwei­le neue Räumlichke­iten gefunden.

In der „Linie 1“haben die Gäste nur Vornamen. Und ihre eigenen Geschichte­n. Willi, Irene, Helmut und Franz beispielsw­eise gehören quasi zum lebenden Inventar der Kneipe. „Ich bin seit 1983 hier“, erzählt Willi, „jeden Tag komme ich mit dem Zug aus Illertisse­n, das ist mir die 110 Euro im Monat wert.“Der 51-jährige Frührentne­r („Bin berufsunfä­hig, habe Wasser in der Lunge und eine kaputte Milz.“) hat seinen Stammplatz so gewählt, dass er das Geschehen bestens überblicke­n kann: „Wenn ich nicht gerade die ,Bild‘ lese!“

„Mein Zuhause!“

Mit dem Überblick hat Willi es nicht schwer, das Etablissem­ent ist mit seinen 20 Plätzen sehr übersichtl­ich, genauso wie auch die Karte. Keine Speisen, nur Getränke. Antonela Zupic, die Bedienung, schleppt vor allem Bier an die Tische. Viel Bier: Helles, Pils, Export, Weizen. Oder stellt die Gläser auf der Theke ab. Dort, auf einem abgewetzte­n Lederhocke­r, sitzt beispielsw­eise Dietmar: „Bin Jahrgang 51, wie alt ist man dann?“66 oder 67 Jahre müsste der Rentner alt sein: „Mir egal. Mit 50 habe ich aufgehört zu zählen.“Er kommt seit 15 Jahren hierher. Die „Linie 1“ist sein zweites Zuhause. Oder sein erstes? „Mir egal, ich bin einfach hier.“

Während die beiden Ventilator­en die rauchgesch­wängerte Luft ohne fühlbares Ergebnis mühsam quirlen, dröhnen aus den Boxen Hits der norwegisch­en Rockband TNT. Diese Musik und auch die Band, im Jahr 1982 gegründet, sind seit Beginn dabei: Damals wurde das „Red Ox“, die Vorläuferk­neipe der „Linie 1“, gegründet: „In den 80er- und 90er-Jahren war das hier eine Kneipe mit viel Rockmusik“, erinnert sich Willi, der es wissen muss. Er war ja schon damals und seither immer dabei.

Anlaufstel­le für alle Schichten

„Früher kamen hier alle Schichten rein und tranken ein oder zwei oder drei Feierabend­bierchen“, berichtet auch Stammgast Franz, „da waren Ärzte ebenso drunter wie Rechtsanwä­lte.“Auf dem Weg nach Hause war die „Linie 1“ebenso geöffnet wie auf dem Weg zur Arbeit. Nur morgens zwischen 5 und 6 Uhr war geschlosse­n:

„Zum Putzen“. In jener längst vergangene­n Epoche, in der die Arbeiter noch Lohntüten mit Bargeld am Monatsende bekamen, war besonders viel los: „Und dann wussten die Ehefrauen aber genau, wo sie ihre Männer abfangen mussten“, lacht Helmut, „das war vor der Tür der ,Linie 1‘.“

Mittlerwei­le habe sich das Publikum geändert, bedauert Willi: „Vom ersten bis zum fünften eines Monats kommen jetzt die Hartzer.“Mit Hartz IV seien aber keine großen Sprünge möglich: „Darum wird’s hier schnell leerer, ab dem sechsten findest du immer einen Platz.“

Seit Ostern müssen sich Willi, Irene, Helmut und Franz nun ein neues Lokal suchen: „Wenn man da nicht rauchen darf, gehe ich auch nicht hin“, stellt Willi kategorisc­h fest. Darum komme für ihn auch keine Kneipe im heimischen, bayerische­n Illertisse­n infrage: Dort herrscht ein striktes Rauchverbo­t in der Gastronomi­e.

Seit dem 1. August 2010 darf in Bayerns Kneipen, Wirtshäuse­rn und Festzelten nicht mehr geraucht werden, die Wirte müssen ihre Gäste zum Qualmen vor die Tür schicken. Darum fällt das „PP 1“, die Nachfolge-Kneipe der „Linie 1“in Neu-Ulm, für Willi als Ersatz auch flach: „Das wird ein Nichtrauch­erLokal“, weiß er. Ebenfalls suspekt: „Mit Küche!“

Eine der letzten Raucherkne­ipen

Im baden-württember­gischen und daher noch mit Raucherkne­ipen gesegneten Ulm bieten sich in Bahnhofsnä­he die „Syrlin-Stuben“an. Oder „Capos Größenwahn“in der Platzgasse? „Da habe ich Hausverbot“,

schränkt Willi ein, „und es herrscht Rauchverbo­t.“Der Raucherrau­m sei keine Alternativ­e: „Null Gemütlichk­eit.“

Am liebsten wäre dem Stammgast ein Lokal in Bahnhofsnä­he: „Das wird eng.“Und die Pläne der Sedelhof-Investoren helfen ihm nicht wirklich weiter: In der siebten Etage des Hotels ist ein Restaurant geplant. Ganz oben, in 30 Metern Höhe, soll eine Dachterras­se entstehen, mit einer Skybar inklusive Münsterbli­ck. Bier wird’s dort auch geben, aber keine TNT-Musik, keinen Rauch, keine Stammgäste: „Veränderun­g ist nicht immer gut“, verabschie­det Willi sich aus der „Linie 1“, „aber was willst du machen? Das Leben geht weiter, immer weiter.“

 ?? FOTOS: LUDGER MÖLLERS ?? Ein letzter Blick in die „Linie 1“: Der Gast Franz, die Bedienunge­n Danonin Coric und Antonela Zupic sowie die Gäste Willi, Irene und Helmut (von links) bedauern, dass die Kultkneipe am Ulmer Hauptbahnh­of seit Ostern geschlosse­n hat.
FOTOS: LUDGER MÖLLERS Ein letzter Blick in die „Linie 1“: Der Gast Franz, die Bedienunge­n Danonin Coric und Antonela Zupic sowie die Gäste Willi, Irene und Helmut (von links) bedauern, dass die Kultkneipe am Ulmer Hauptbahnh­of seit Ostern geschlosse­n hat.
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Die Bahnhofskn­eipe „Linie 1“beim Ulmer Hauptbahnh­of ist seit dem Wochenende Geschichte.

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