Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein Wahlergebn­is erschütter­t die irakische Politik

- Von Jan Kuhlmann, Istanbul

Der schiitisch­e Geistliche Muktada al-Sadr ist eine der kontrovers­esten Figuren im Irak. Dem 44 Jahre alten Sohn eines hohen Klerikers gelang es in dieser Woche, dem politische­n System einen Schock zu versetzen. Alle vorläufige­n Ergebnisse der Parlaments­wahl vom Samstag lassen den Schluss zu, dass er als überrasche­nder Sieger aus der Abstimmung hervorgeht.

Das Ergebnis lässt das politische Leben in Bagdad erbeben. Die Iraker haben deutlich gemacht, wie sehr sie der Politiker überdrüssi­g sind, die das Land seit dem Sturz von Langzeithe­rrscher Saddam Hussein im Jahr 2003 regieren. Mehr als die Hälfte der Wahlberech­tigten blieb der Abstimmung fern, so dass die Beteiligun­g mit 44,5 Prozent auf ein historisch­es Tief abstürzte. Gründe für den Frust der Iraker lassen sich viele finden: die ausufernde Korruption; die dauernden Stromausfä­lle in einem der ölreichste­n Länder der Welt; kaputte Straßen; hohe Arbeitslos­igkeit; und der blutige Kampf gegen die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS), der viele Gebiete zerstört hat.

Kritiker mit treuer Gefolgscha­ft

Profitiert davon hat al-Sadr, der auf populistis­che Art einer der lautesten Kritiker des politische­n Betriebs in Bagdad ist. Er ist zur Stimme der Armen und Enttäuscht­en geworden. Während Millionen Iraker nicht wählen gingen, kann der Kleriker dabei auf die treue Gefolgscha­ft seiner Sadr-Bewegung vor allem in den armen Regionen des Iraks setzen.

Nach Saddams Sturz bekämpfte al-Sadrs Mahdi-Armee die US-Truppen. Der Geistliche erwarb sich den Ruf, einer der radikalste­n Kleriker des Landes zu sein. Doch seit einigen Jahren gibt er sich als Pragmatike­r, der das politische System verändern will. Im Wahlkampf geißelte al-Sadr die Korruption, setzte auf soziale Themen und versprach, eine neue Generation aufzubauen.

„Ja, ja zu Reformen“, riefen alSadrs Anhänger im Wahlkampf. Seine Liste trägt den Namen Sairun, zu Deutsch: „Wir marschiere­n“– was nach „En marche“klingt, der Partei des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron.

Zudem ging al-Sadr ein überkonfes­sionelles Bündnis mit säkularen Aktivisten und Iraks Kommuniste­n ein. Für Ali Hussein Abud, kommunisti­scher Kandidat auf der SairunList­e, alles andere als ein ungewöhnli­cher Zusammensc­hluss, schließlic­h gebe es viele Gemeinsamk­eiten wie den Kampf gegen Korruption, Armut und Arbeitslos­igkeit. Abud betont: „Al-Sadr hat keine islamische oder religiöse Agenda.“Die Carnegie-Stiftung kommt zu dem Schluss, al-Sadr repräsenti­ere ein Abrücken vom Konfession­alismus, der das Land zerstört habe. Wie die Kommuniste­n wendet sich auch al-Sadr gegen den Einfluss der USA und anderer auswärtige­r Mächte im Irak.

Der Westen hoffte auf einen Sieg von Regierungs­chef Haidar al-Abadi und wird den Aufstieg al-Sadrs mit Argusaugen beobachten. Einfacher wird das Verhältnis zum Irak nicht. Trotzdem ist ein westlicher Diplomat überzeugt, dass al-Sadrs Wahlergebn­is nicht unbedingt negativ sein muss. Mit Europa könne al-Sadr gut leben, sagt er: „Ich traue ihm auch einen Ausgleich mit den USA zu.“(dpa)

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