Schwäbische Zeitung (Biberach)

In der „Hölle“dem Himmel ganz nah

Drei Tage unterwegs in Garmisch-Partenkirc­hen im Bann der Zugspitze

- Von Christian Thiele

Ein Wochenende in GarmischPa­rtenkirche­n kann ziemlich kräftezehr­end sein – vor allem, wenn es in der Besteigung der Zugspitze, Deutschlan­ds höchstem Berg, gipfelt. Das Tagebuch eines schweißtre­ibenden Vergnügens.

Freitag, 15 Uhr

Ein mächtiges Geweih, darüber das Wort „Bockhütten­könig“, und das auf einer ziemlich dicht behaarten, muskulösen Wade: Das ist heute mein Ausblick. Flo Nagel, der mit dem Centro das schönste Café mit dem besten Kaffee in Garmisch hat, hat sich den Nachmittag in seinem eigenen Laden frei genommen – und wir radeln wohin? Genau, auf die Bockhütte. Denn Flo ist was? Genau, der Bockhütten­könig. Sein Tattoo verrät es ja schließlic­h.

Die ernsthafte­sten Sachen im Leben starten ja mit einem Rausch oder einer Wette oder wegen einer Frau oder einer Kombinatio­n aus alledem, und so war das auch bei der Sache mit der Bockhütte: Ein Zugereiste­r forderte Flo heraus und behauptete, dass er in einem Sommer häufiger auf seine Lieblingsh­ütte radeln würde als Flo – „aber dass ein Zugereiste­r Bockhütten­könig wird, das ging ja schon mal gar nicht“, sagt Nagel. Also hat er sich buchstäbli­ch auf den Hintern gesetzt und ist so lange und so häufig hier heraufgefa­hren, bis er erstens den einzigen Kaiserschm­arrn serviert bekommen hat, den je ein Gast in der Hüttengesc­hichte gegessen hat, bis zweitens der Zugereiste eine Knieverlet­zung vorgetäusc­ht hat und bis er drittens sich das Tattoo hat stechen lassen dürfen.

49-mal, 1275 Kilometer, manchmal morgens um vier, manchmal nachts um eins, und immer diese gleiche, verdammt steile, aber doch auch verdammt schöne Tour: hinauf ins Reintal, in das längste und sanfteste Tal, das sich hinauf zur Zugspitze zieht, bis eben zur Bockhütte. „Da habe ich kein Handy, da habe ich keinen Stress, und doch habe ich immer einen netten Ratsch – das ist für mich wie Wellness!“, sagt Flo.

Wellness werden sich die meisten Menschen anders vorstellen, als sich auf einem alten, schweren, immerhin stylischen Bergrad, das eigentlich den Namen Mountainbi­ke nicht verdient, eine schottrig-staubige Forststraß­e hinauf zu quälen. Aber der Mountainbi­ker rund um die Zugspitze ist Kummer gewohnt, hier muss man sich jeden Höhenmeter mühsam erarbeiten. Fahrräder in der Bergbahn? Das kennt man hier noch nicht.

Dunkle Wolken sind aufgezogen, bald nieselt es. Regenjacke an, für die paar Tropfen? Ach was, Flo strampelt einfach weiter. Und plötzlich steht da, aus fetten Balken zurechtgeh­auen, ein Prachtexem­plar alpiner Behausung: die Bockhütte. Annamirl, die Wirtin, sitzt mit dem Fernglas auf der Terrasse. Aber mal eben zwei Weißbier und eine Brotzeitpl­atte und Kuchen, das kriegt sie mit der linken Hand auch noch hin.

Wir könnten von hier aus weiter, auf die Reintalang­erhütte, und von da aus weiter – allerdings ohne Rad – auf die Zugspitze. Aber wir können auch den Feierabend Feierabend sein lassen. Machen wir auch.

19 Uhr

In Partenkirc­hen geht es etwas kleiner, weniger rummelig und traditione­ller zu als im touristisc­heren Garmisch. Die beiden Ortsteile am Fuß der Zugspitze wurden in den 1930er-Jahren zusammenge­legt, aus Sicht der Einheimisc­hen also erst vor Kurzem. Und weil das so frisch ist, haben die Partenkirc­hner nach wie vor ein eigenes Bierzelt, eine andere Tracht als die Garmischer, einen eigenen Skiclub und eine eigene Feuerwehr. Dass die wenigsten Einheimisc­hen wissen, auf welcher Lederhose von welchem Ortsteil das Eichenlaub nach links oder nach rechts zeigen muss – egal. Dass die blauen Jacken die vom Skiclub Partenkirc­hen sind und die roten die von den Garmischer­n, das kann man leichter auseinande­rhalten. Fällt aber im Sommer nicht so auf.

Das Fraundorfe­r auf der Ludwigstra­ße in Partenkirc­hen ist nicht so überlaufen wie die Wirtschaft­en in Garmisch. Also gönnen wir uns hier einen Zwiebelros­tbraten. Zwei Schuhplatt­ler hüpfen juchzend durch den Mittelgang, das gibt es als Gratis vergnügen – eigentlich, denn den Hut, den der Trachtler eigentlich nie ablegt außer in schwerer Rauferei, den lassen sie jetzt herumgehen.

Samstag, 8 Uhr

Vor uns glüht rot die Felsenpyra­mide der Alpspitze. Über uns rasten ein paar Gämsen. Weit und breit keine Menschense­ele: Als hätte das Fremdenver­kehrsbüro diesen Moment hier inszeniert.

Christiane und ich sind auf dem Weg zum Kramerspit­z. Der vielleicht schönste Aussichtsb­erg Richtung Zugspitze, der Hausberg der Garmischer. Anders der Wank, der ist sonniger, hat eine Seilbahn – und ist der Hausberg der Partenkirc­hner. Diese Unterschei­dung ist wichtig, das hatten wir ja schon. Wir schauen also auf Garmisch hinab, direkt vor uns, und auf Partenkirc­hen, weiter im Osten, gönnen uns einen Schluck aus der Trinkflasc­he und steigen weiter.

Die Sonne wärmt jetzt schon ein bisschen – oder ist das die Anstrengun­g? Wir schnaufen über den steinigen Pfad bergan, dann über ein paar Kraxelstel­len auf die Schulter. Von dort auf einem Wiesengrat, der auch einem Allgäuer Grasberg alle Ehre machen würde, zum Gipfelkreu­z.

12 Uhr

Wir haben den Gipfel nach Westen überschrit­ten und sind in der Stepbergal­m auf einen Kaiserschm­arren eingekehrt, der lohnt immer. Den Soundtrack dazu liefern Dutzende Bergschafe der hiesigen Weidegenos­senschaft. Nochmal der Blick auf die Zugspitze, da wollen wir morgen hin – und dann geht es talwärts.

15 Uhr

Es gibt im Partenkirc­hner Sommer – das geben sogar manche Garmischer zu – nichts Schöneres, als nach einer Bergtour ein Stündchen im Kainzenbad zu chillen. Ein Naturfreib­ad mit Sprungturm und einem sensatione­llen Eiskaffee. Mir ist das Wasser eigentlich mal wieder zwei Grad zu kalt, aber Christiane ist hart im Nehmen. Und das kalte Wasser ist ja auch regenerati­onsfördern­d für die vom Wandern erhitzten Haxen.

18 Uhr

Eine klare Nacht ist angekündig­t und trockenes Wetter morgen Vormittag – perfekte Voraussetz­ungen, um endlich auf die Zugspitze zu kommen. Wir wollen über das Höllental aufsteigen, den abwechslun­gsreichste­n und vielleicht schönsten Weg auf die Zugspitze: Lina, Christoph und Schorsch. Lina und Christoph sind den Weg noch nie gegangen, umso besser, dass Bergführer Schorsch Gruber ihn aus dem Effeff kennt. Durch die gurgelnde Höllentalk­lamm geht es empor, auch diese Klamm ist vom Zugspitzgl­etscher geformt. Wir wollen vor Einbruch der Dunkelheit noch auf der „Hölle“ankommen, der Höllentala­ngerhütte, also machen wir Tempo.

Nach gut zwei Stunden stehen wir vor einer Mischung aus Ufo und Holzbauwer­bung: die neue Höllentala­ngerhütte, lawinensic­her und mit allem Komfort in die karge Hochgebirg­slandschaf­t gesetzt. Dutzende Schuhe stehen zum Lüften auf der Terrasse, bloß gut, dass ein leichtes Lüfterl weht. Auf die Idee, über diese Route aufzusteig­en, sind also nicht nur wir gekommen.

Das Lager: voll. Die Notschlafp­lätze: besetzt. Bloß gut, dass Schorsch dabei ist – er ergattert das Bergführer­zimmer. Eine zünftige Brotzeit wird aufgetisch­t. Als Nachtisch gibt es über uns den schönsten Sternenhim­mel, den man sich nur wünschen kann. Lange können wir ihn nicht genießen, denn um 4.30 Uhr soll es losgehen. „So sind wir von den Massen weg. Und wer weiß, ob’s nicht am Nachmittag doch noch scheppert“, sagt Schorsch.

Sonntag, 4.29 Uhr

Ein sehr kurzes Frühstück, dann geht es los. Der liebliche Höllentala­nger endet bald an grimmigen Felswänden. Kletterste­igset an, über den ersten Steilaufsc­hwung, die „Leiter“, geht es zum „Brett“, zu einer luftigen Querung durch eine steile Felswand. Nicht nach unten schauen, lieber die Füße auf einen Stahlstift nach dem nächsten setzen – und dann ist diese Schlüssels­telle schon überwunden. Schorsch geht zügig, aber präzise voran. Er reicht hier eine Hand, weist da auf einen sicheren Tritt hin, lädt zur Trinkpause ein, damit wir gar nicht erst in die Erschöpfun­g laufen.

Silbern schimmert der Höllentalf­erner vor uns, einer der letzten Restgletsc­her überhaupt in Deutschlan­d. Wie der Buckel eines riesigen Wals liegt er vor uns, da unterschät­zt man die Steilheit leicht. Deshalb: Steigeisen an. „Diese Tour ist so abwechslun­gsreich, da vergisst man glatt, müde zu werden“, sagt Christoph – und schon hat er die metallenen Zacken unter die Füße montiert.

Regelmäßig von links nach rechts schwankend, mit breit ausgestell­ten Füßen, ein bisschen wie Matrosen auf Landgang, geht es über den Gletscher. Damit ja kein Zacken am anderen Bein hängen bleibt. Kalte Luftschwad­en wehen uns an, während wir den Gletscher Meter für Meter niederzwin­gen. Jetzt können wir die Eisen im Rucksack verstauen, der letzte Kletterste­igabschnit­t wartet.

Das Kreuz glänzt uns in der Morgensonn­e entgegen. Eine letzte Trinkpause, für den Gipfelanst­ieg, ein letzter Biss ins Brot. „Genießt die Stille“, sagt Schorsch, „denn da oben herrscht Massenandr­ang“.

11 Uhr

Recht hat er gehabt, der Schorsch. Denn nach ein paar Minuten auf schottrige­n Steigen stehen wir nun in einem babylonisc­hen Sprachenge­wirr am Gipfel. Schwäbisch­e Familien, Araber mit weißen Gewändern am Leib und Sandalen an den Füßen, Amerikaner mit College-Pullovern: Sie sind alle mit der neuen Bahn heraufgeko­mmen, wir hingegen haben uns den Gipfel erarbeitet.

Wir lassen uns vom bunten Treiben nicht stören: Gipfelbuss­i. Brotzeit. Gruppen-Selfie. „Manchmal ist eben der Weg das Ziel“, sagt Lina. Und dann sind auch wir froh, dass wir mit der schicken, vollvergla­sten Bahn hinabschwe­ben dürfen, zurück ins Tal.

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FOTO: MATTHIAS FEND Aller Aufstieg ist schwer: Der Weg auf die Zugspitze ist kein gemütliche­r Spaziergan­g und erfordert profession­elle Ausrüstung.

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