Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Zufrieden damit sein, was noch geht“
Peter Schroeders Sehvermögen ist stark eingeschränkt – Anderen Betroffenen Mut machen
LAUPHEIM - Der gelbe Button mit drei schwarzen Punkten, den Peter Schroeder am Revers trägt, weist auf sein eingeschränktes Sehvermögen hin. Der 71-jährige Laupheimer hat AMD – Altersabhängige Makula-Degeneration. Doch er lässt sich nicht unterkriegen. Seit Kurzem leitet er die Regionalgruppe Ulm-Oberschwaben von „Pro Retina“, einer deutschlandweit tätigen Selbsthilfevereinigung. „Ich will anderen Betroffenen Mut machen“, sagt Schroeder. „Man kann trotz dieser chronischen Augenerkrankung ein selbstbestimmtes Leben führen.“
Was AMD auslöst, ist nicht vollständig geklärt. Davon befallen wird die Makula in der Mitte der Netzhaut, die Stelle des schärfsten Sehens. Obwohl sie nur etwa fünf Prozent der Netzhautfläche einnimmt, ist sie unverzichtbar, um Gesichter und Gesichtsausdrücke zu erkennen, beim Lesen, Fernsehen und Autofahren, zur Unterscheidung feiner Details und Konturen.
Bei Menschen, die an AMD leiden, sterben im Spätstadium der Erkrankung Zellen in der Makula ab, oder es kommt zu Ansammlungen von Flüssigkeit und Einblutungen in und unter der Netzhaut. Beides verschlechtert das Sehvermögen erheblich, die zentrale Sehschärfe geht nach und nach verloren. Heilung gibt es bis heute nicht; die verfügbaren Medikamente können den Prozess im besten Fall bremsen.
Leitplanken mit Buckel
„Bei den meisten Menschen tritt AMD im Alter auf“, erklärt Peter Schroeder. „Etwa ab dem siebten Lebensjahrzehnt zeigen sich üblicherweise die ersten Symptome.“
Bei ihm werden sie bereits mit 37 im linken Auge diagnostiziert. Zehn weitere Jahre bleibt er beschwerdefrei, dann treten eindeutige Alarmsignale auf, er nimmt gerade Linien plötzlich krumm oder gebogen wahr, die Leitplanken an der Autobahn formen sich zu einem Buckel, der mitfährt. Gleichwohl habe er noch bis zu seinem 60. Lebensjahr unbeeinträchtigt leben können, sagt Schroeder – „mit dem linken Auge habe ich zwar nur noch peripher gesehen, doch das rechte hat es kompensiert“.
Mit 60 geht der promovierte Chemiker in den Vorruhestand. Bald darauf sieht er auch mit rechts gebogene Linien. In der Folge fällt die zentrale Sehschärfe auch auf diesem Auge kontinuierlich ab, auf heute fünf bis zehn Prozent; links ist es noch weniger. Etwa alle zwei Monate bekommt er ein Medikament direkt ins Auge gespritzt, es stabilisiert die verbliebene Sehfähigkeit.
„Du siehst eigentlich alles, aber erkennst nichts“, beschreibt Peter Schroeder. Der entscheidende Teil des Gesichtsfelds, genau die Stelle, auf die man den Blick fixiert, ist komplett verschwommen. Immerhin, das periphere Sehen außerhalb des Zentrums
bleibt intakt, die Orientierungsfähigkeit damit erhalten. „Man erblindet nicht“, sagt Schroeder. „Diese Erkrankung schränkt dein Leben ein, kostet aber nicht das Augenlicht.“
Hörbücher statt Lesen
Das Autofahren hat Schroeder schon vor Jahren aufgegeben, das Hobby Heimwerken ebenfalls. Im Alltag sei so ziemlich alles zu bewältigen, sagt er, „es dauert nur viel länger“. Seine wichtigste Strategie lautet groß und nah. Eine Lupe ist stets griffbereit. Schriftstücke schiebt er in ein stark vergrößerndes Lesegerät; sein Fernseher hat 1,60 Meter Bilddiagonale, „ich sitze einen Meter davor“. Höllisch aufpassen muss er außer Haus – „ich sehe nur Fahrzeuge mit Licht gut, da gab es schon brenzlige Situationen“. Bücher zu lesen strengt ihn zu sehr an, er ist auf Hörbücher umgestiegen. Die „Schwäbische Zeitung“bekommt er stets aktuell über eine App vorgelesen – „auch das ist ein Stück Lebensqualität“.
Psychische Belastungen sind allerdings nicht ausgeblieben. „Wenn man nach dem Weg fragt und jemand sagt: ,Hier auf dem Straßenschild steht’s doch’, das tut weh“, sagt Schroeder. Ganz besonders schlaucht ihn, dass es fast unmöglich wurde, Bekannte zu erkennen, die ein paar Meter entfernt winken, zum Beispiel im Kulturhaus. Das war ihm peinlich; er begann Gesellschaften zu meiden, zog sich zurück. Neulich aber hat ihn eine 80-jährige AMDPatientin, die er auf einer Fortbildung kennenlernte, aufgerichtet. Er fühle sich in wachsendem Maß einsam, erzählte Schroeder. „Ich gehe offensiv damit um, hefte mir die Sehbehindertenplakette an und zeige allen, was mein Problem ist“, erwiderte sie.
Schroeder trug den gelb-schwarzen Button bis dahin höchstens verschämt unterm Sakko. Jetzt macht er es wie die 80-Jährige und stellt fest, dass er sich Fremden gegenüber weitaus weniger erklären muss als früher. „Das ist gut fürs Selbstbewusstsein“, sagt er. „Ich stehe jetzt
dazu, und das möchte ich gerne auch anderen Betroffenen vermitteln.“
Seit vier Jahren ist Peter Schroeder Mitglied bei der Selbsthilfeorganisation „Pro Retina“, seit April steht er der Regionalgruppe UlmOberschwaben vor, die zwischen Heidenheim und Ravensburg, Alb und Allgäu etwa 65 Mitglieder zählt. Bei den monatlichen Treffen tauschen sich Menschen mit unterschiedlichen Netzhautdegenerationen und ihre Angehörigen aus, berichten von ihren Erfahrungen, holen Rat ein, geben einander Tipps, erhalten Informationen über Therapien, Alltagshilfen und soziale Hilfestellungen; hier finden sie Anschluss und Zuwendung, fühlen sich verstanden.
Die Angebote ausbauen
Peter Schroeder möchte die Angebote ausbauen. Er strebt eine Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik Ulm und dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband an – „dann kommen größere Gruppen zustande und wir können Referenten einladen“. Mit dem Ulmer Theater spricht er darüber, zwei oder drei Vorstellungen pro Jahr mit Audiodeskription zu begleiten – blinde und sehbehinderte Menschen bekommen bei diesem Verfahren über Kopfhörer erzählt, was sich auf der Bühne visuell gerade tut. Vergleichbare Programme gibt es im Fernsehen.
Mit seinem ehrenamtlichen Engagement möchte Peter Schroeder Schicksalsgefährten ermutigen und sie vor Vereinsamung bewahren. Sein Lebensmotto: „Nicht hadern damit, was nicht mehr geht, sondern zufrieden damit sein, was noch geht.“