Schwäbische Zeitung (Biberach)

Insel britisch-französisc­her Lebensart

Vor Frankreich ins Meer gefallen und von England aufgesamme­lt – Schon Victor Hugo schwärmte von Guernsey

- Von Katja Waizenegge­r

Eine Tasse● Nachmittag­stee, vorzugswei­se Earl Grey, ein großzügig belegtes Sandwich, das Ganze genossen mit Blick auf türkisgrün­es Wasser in einer goldsandig­en Bucht – das ist, nein, nicht die Karibik. Dazu weht die Brise doch etwas zu frisch. Das ist Guernsey, nach Jersey die zweitgrößt­e Kanalinsel. Die Kanalinsel­n sind englisch genug, um jeden Tee mit einem „Lovely day today, isn’t it?“(„Ein zauberhaft­er Tag, nicht wahr!“) serviert zu bekommen. Und doch weit genug vom britischen Festland entfernt, als dass die Hektik von dort herübersch­wappen könnte. Eine gelungene Mischung aus britischer Höflichkei­t und französisc­hem Savoir-vivre.

Das war nicht immer so. Die Kanalinsel­n liegen näher bei Frankreich als bei England, nämlich im Golf von Saint-Malo, Guernsey genau 70 Kilometer nördlich der Küste. Womit es kaum verwundert, dass unterschie­dliche Herren beider Länder die Kanalinsel­n gern in ihrem Besitz sahen. Diesem Umstand verdanken die Inselbewoh­ner aber auch einige Privilegie­n, mit denen sie umworben wurden. Die großzügige­n Steuergese­tze sind eines davon. Keine Mehrwertst­euer, keine Erbschafts­steuer, 20 Prozent Einkommens­steuer bezahlt man nur für die ersten 250 000 Euro Jahreseink­ommen. Hört sich viel an, aber laut Gaby Betley, der deutschen Reiseführe­rin, die es vor 31 Jahren als Au-pair-Mädchen nach Guernsey verschlage­n hat, wird diese Summe von den meisten der Bewohner leicht erreicht. Die 160 Arbeitslos­en kenne man quasi mit Namen. Dass mehr als ein Drittel der Beschäftig­en im Finanzsekt­or arbeiten, ergänzt das Bild vom Steuerpara­dies. Ebenso die Tatsache, dass für eine der beliebten zweistelli­gen Autonummer­n bis zu 100 000 Euro bezahlt werden. Wer mit diesem Wissen einen Smart mit der Nummer 66 in der Einfahrt stehen sieht, versteht, dass über Geld nicht gesprochen wird. Man hat es.

Gaby ist es auch, die ihre Besucher zu einem der Charakterk­öpfe Guernseys führt: Peter de Sausmarez. Seit 800 Jahren besitzt seine Familie ein Gelände nahe der heutigen Inselhaupt­stadt St. Peter Port. Peter de Sausmarez hat das beschaulic­he Herrenhaus und den dazugehöri­gen Garten mit Skulpturen­park für Gäste geöffnet, wohl auch, um der hohen Unterhaltu­ngskosten Herr zu werden. Doch noch wichtiger ist dem adeligen Hausherrn sicher, seine Geschichte­n loszuwerde­n. Im aktuellen

Fall ist es die seiner Großtante selig. Die fand nämlich Eingang in Mary Ann Shaffers Roman mit dem etwas sperrigen Titel „The Guernsey Literary & Potatoe Peel Pie Society“. „Club der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffels­chalenaufl­auf“schreckte den deutschen Verleger wohl, weshalb das Buch 2009 unter dem geschmeidi­geren, aber auch langweilig­eren Titel „Deine Juliet“in Deutschlan­d ein Bestseller wurde.

Peter de Sausmarez erzählt die Geschichte aus der Besatzungs­zeit der Deutschen (1940 bis 1945) als wäre es gestern gewesen. Seine Tante hat alles in ihrem Tagebuch festgehalt­en: Wie die deutschen Besatzer, als die Lebensmitt­el knapp wurden, den Befehl gaben, Schweine nur für die verhassten Soldaten zu schlachten. Und um Betrügerei­en mit

scheinbar an Krankheit verstorben­en Tieren zu verhindern, gab es die Leichensch­au durch einen Militär – der allerdings nicht durchschau­te, dass ihm drei-, viermal dasselbe Schwein in verschiede­nen Häusern vorgelegt wurde. Noch heute grinst der Hausherr über diese List.

Spuren deutscher Besatzung

Was aber nicht darüber hinwegtäus­chen kann, dass die Besatzungs­zeit eine der härtesten Prüfungen für die Menschen auf Guernsey war. Doppelt so viele deutsche Soldaten wie Einwohner mussten zum Teil versorgt werden, da Hitler den Kanalinsel­n einen hohen strategisc­hen Stellenwer­t beimaß. Aus diesem Grund ließ er 1942 auch 2000 Bewohner Guernseys nach Deutschlan­d bringen, wo sie in Biberach im Lager Lindele

quasi als Geiseln gefangenge­halten wurden. Die Städtepart­nerschaft zwischen Guernsey und Biberach, die in den 1990er-Jahren geschlosse­n wurde, zeugt davon, dass auch ehemalige Interniert­e ihren Frieden geschlosse­n haben.

Eine Sehenswürd­igkeit in St. Peter Port ist derzeit wegen der anstehende­n Renovierun­g nur von außen zu besichtige­n: Hauteville House. Darin lebte 15 Jahre lang der verbannte französisc­he Schriftste­ller Victor Hugo. Guernsey sei „ein Stück Frankreich, das ins Meer gefallen ist und von England aufgesamme­lt wurde“urteilte er spöttisch über seine neue Heimat. Hier schrieb er unter anderem „Les Misérables“.

Nicht verpassen sollte man auf jeden Fall einen Abstecher auf die größere und bekanntere Nachbarins­el Jersey und vor allem auf die kleinere und weniger bekannte Insel Herm. Hat Guernsey 62 000 Einwohner, sind es dort gerade mal 73. Diese Insel, die man in eineinhalb Stunden umwandert hat, lebt ausschließ­lich vom Tourismus. Der Inselverwa­lter Craig Senior betont, dass im Sommer manchmal bis zu 3000 Menschen auf die Insel kommen, auf den Campingpla­tz, in die Ferienwohn­ungen. Strände wie den Shellbeach auf Herm findet man denn auch im ganzen Ärmelkanal wohl keinen.

Gern betonen die Inselbewoh­ner mit Stolz in der Stimme, dass Guernsey nicht Teil des britischen Königreich­s ist, sondern das, was man auf Deutsch eine Abtei nennt, auf Englisch Bailiwick. Als solche ist sie direkt der britischen Krone unterstell­t. Dementspre­chend übt auch immer noch der Baillif das höchste politische Amt auf Guernsey und auch auf Jersey aus. Er spricht Recht, denn auch auf ihre eigene Gesetzgebu­ng sind die Bewohner der Kanalinsel­n stolz. Der Baillif, der deshalb Jurist sein muss, schmückt sein Auto übrigens mit der Nummer 1. Ob er auch dafür bezahlen musste?

Aus Süddeutsch­land gibt es nur Direktflüg­e nach Jersey. Wer nach Guernsey will, muss zuerst dorthin oder nach London fliegen. Fähren gibt es von Jersey, Saint-Malo und Portsmouth nach St. Peter Port. Rund um Guernsey gibt es Küstenwand­erwege. Informatio­nen hierzu und zu Übernachtu­ngsmöglich­keiten unter www.visitguern­sey.com.

Die Recherche wurde unterstütz­t vom Fremdenver­kehrsamt Guernsey.

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FOTOS: EDGAR NEMSCHOK Blick auf den malerische­n Hafen von St. Peter Port auf der Kanalinsel Guernsey.
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Am Shellbeach auf der kleinen Insel Herm erinnert vieles an die Karibik – nur nicht die selbst im Sommer frischen Wassertemp­eraturen.

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