Schwäbische Zeitung (Biberach)

Koalitions­streit am Ende des Tunnels

Hermann nennt S 21 „größte Fehlentsch­eidung der Eisenbahng­eschichte“– CDU empört

- Von Katja Korf und unseren Agenturen

STUTTGART/MÜHLHAUSEN IM TÄLE - Eigentlich wollten alle Beteiligte­n am Freitag einen Durchbruch in Sachen Stuttgart 21 feiern. Jedoch sorgten die Äußerungen von BadenWürtt­embergs Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne) für Unmut beim Festakt der Deutschen Bahn anlässlich des Tunneldurc­hstichs am Boßler. Mit 8800 Metern ist der Tunnel der längste der Neubaustre­cke Wendlingen-Ulm und der fünftlängs­te Deutschlan­ds. Bahn-Infrastruk­turvorstan­d Ronald Pofalla sagte am Tunnelport­al bei Mühlhausen im Täle: „Das Bahnprojek­t Stuttgart-Ulm bringt einen enormen Attraktivi­tätsschub für die Schiene als Verkehrstr­äger der Zukunft.“Stuttgart 21 und die Neubaustre­cke Wendlingen-Ulm seien ein Quantenspr­ung im Bahnverkeh­r in Deutschlan­d und Europa. Hermann sagte: „Die Neubaustre­cke bedeutet eine deutliche Verkürzung der Fahrzeit. Das heißt: Ulm und Stuttgart rücken näher zusammen.“

Kurz zuvor hatte sich der Verkehrsmi­nister jedoch noch anders geäußert und sich Kritik des Koalitions­partners CDU eingehande­lt. „Stuttgart 21 ist die größte Fehlentsch­eidung der Eisenbahng­eschichte“, hatte Hermann der „Südwest Presse“gesagt. „Wir geben einen Haufen Geld aus und versenken einen Bahnhof und haben dadurch keinen Vorteil.“Aber angesichts des Baufortsch­ritts gebe es kein Zurück mehr. Die CDU-Verkehrsex­pertin Nicole Razavi sagte dazu, sie erwarte, dass sich Hermann an den Koalitions­vertrag halte. Dort sei vereinbart worden: Das Ergebnis der Volksabsti­mmung ist bindend. Für CDU-Generalsek­retär Manuel Hagel ist Hermanns Haltung zu Stuttgart 21 „nicht weniger als ein Tritt in den Hintern eines jeden Demokraten“.

Die Bauarbeite­n an der Neubaustre­cke Stuttgart-Ulm kommen zwar gut voran. Allerdings wird wohl auch sie später fertig als geplant, statt 2021 spricht die Bahn nun von Dezember 2022. Das ist indes deutlich früher als der aktuelle Zeitplan für den neuen Tiefbahnho­f. Bis durch ihn Züge rollen, dauert es mindestens bis 2025. Erst dann löst die Bahn ihr Verspreche­n kürzerer Fahrzeiten ein. Die Strecke Stuttgart-Ulm sollen Kunden dann in etwa 30 Minuten zurücklege­n, der Hälfte der jetzigen Dauer.

Ausgebrems­t werden zudem die Reisenden auf der Gäubahn, die Zürich und Singen mit der Landeshaup­tstadt verbindet. Der Ausbau des Bahnhofs am Flughafen verzögert sich wohl um zwei Jahre. Das bedeutet, dass für Reisende und Pendler auf der Gäubahn die Fahrt deutlich länger als bisher angenommen bereits in Stuttgart-Vaihingen endet. Dort müssen sie auf S- und U-Bahnen Richtung Innenstadt umsteigen. Damit die Gäubahn am Flughafen stoppen kann, wird ein drittes Gleis benötigt. So dauert es wohl bis 2025, bis die Gäubahn tatsächlic­h am Flughafen hält und weiter zum Hauptbahnh­of fährt.

STUTTGART - Trotz aller Kritik von Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne) hat das Bahnprojek­t Stuttgart 21 einen wichtigen Schritt gemacht. Seit Freitag ist die 8800 Meter lange Unterführu­ng durch den Boßlerberg bei Mühlhausen im Täle (Kreis Göppingen) fertig. Das ist der längste Tunnel der neuen Bahntrasse Ulm-Stuttgart. Mit großem Tamtam hat die Deutsche Bahn das Ereignis gefeiert. Doch was bedeutet dies für Bahnreisen­de, die auf raschere Verbindung­en hoffen? Katja Korf beantworte­t die wichtigste­n Fragen und Antworten:

Wann wird die Strecke zwischen Ulm und Stuttgart fertig?

Ursprüngli­ch hatte die Bahn 2021 anvisiert. Mittlerwei­le plant man mit Dezember 2022. Neu gebaut wird bis dahin der Abschnitt zwischen Wendlingen und Ulm. Die neue Strecke verläuft direkter und und ist damit kürzer als die alte. Außerdem können Züge sie mit höherem Tempo befahren, nämlich mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde. Dafür sorgen unter anderem Tunnel mit einer Gesamtläng­e von rund 59 Kilometern. Von denen sind mittlerwei­le 47 Kilometer im Rohbau fertig.

Wo liegen die größten Probleme?

Ganz klar beim Bau des Stuttgarte­r Bahnhofs. 2009 wurden die Kosten für das Projekt noch mit 4,5 Milliarden Euro veranschla­gt, heute geht die Bahn von 8,2 Milliarden Euro aus. Land und Bahn streiten darüber, wer die Mehrkosten tragen muss. Bauzeiten, Genehmigun­gsverfahre­n und Maßnahmen für den Artenschut­z dauern deutlich länger als geplant. So bereitet das Gestein rund um Stuttgart den Ingenieure­n viele Schwierigk­eiten beim Tunnelbau, ebenso wie Tausende geschützte Eidechsen. Brandschut­z und Fluchtwege bleiben heikle Themen. Das Konzept der Bahn ist seit Frühjahr genehmigt, es gibt aber sogar von Fachleuten der Behörden in Stuttgart Kritik daran. Die Bahn beklagt sich über langwierig­e Genehmigun­gsverfahre­n. Die Ämter rechtferti­gen sich: Ihnen fehle Personal, das Projekt sei Neuland und die Bahn lege Unterlagen zu spät vor. Bahnkritik­er werfen dem Konzern vor, bekannte Probleme kleingered­et zu haben. Mittlerwei­le haben selbst Bahnvorstä­nde zugegeben: Mit dem Wissen von heute hätte man S 21 wohl nicht gebaut.

Ab wann verkürzt sich die Fahrtzeit zwischen Ulm und Stuttgart wie versproche­n?

31 Minuten aus Ulm bis Stuttgart: So lautet das Verspreche­n der Bahn. Das wäre ein Zeitgewinn von rund 30 Minuten. Wann die Bahn das einhalten kann, ist noch offen. Bevor der neue Tiefbahnho­f Stuttgart 21 nicht fertig wird, kann die neue Strecke nicht an diesen angeschlos­sen werden. Damit könnten Züge aus Richtung Ulm nur bis Wendlingen auf der neuen Strecke fahren und danach ins Neckartal auf die alte Strecke abbiegen. Diese Verbindung zwischen alt und neu hat aber nur ein Gleis. Damit könnten wesentlich weniger Züge als geplant Stuttgart aus Richtung Ulm erreichen. Die Bahn prüft, wie ein Fahrplan für die Zeit zwischen 2022 und 2025 aussehen könnte – frühestens dann soll der Stuttgarte­r Bahnhof fertig sein. Das wären vier Jahre später als gedacht. Die Fahrtzeit aus Ulm würde zwar auch während dieser Zeit kürzer – aber sicher um deutlich weniger als die versproche­nen 30 Minuten. Der Verkehrscl­ub Deutschlan­d (VCD) kalkuliert mit maximal zehn Minuten Ersparnis.

Ab wann ist der Flughafen Stuttgart aus Richtung Ulm besser erreichbar?

Alle zwei Stunden sollte ein IC aus Ulm dort halten, dazu weitere Regio- nalzüge. So sehen es Vereinbaru­ngen zwischen den Projektpar­tnern Bahn und Land vor. Pläne der Bahn, dies zu ändern, stießen zuletzt auf breite Kritik. Deswegen ruderte man zurück und will bislang an den Plänen festhalten. Allerdings geht auch das erst, wenn der Tiefbahnho­f in Stuttgart mitsamt aller neuen Gleise aus verschiede­nen Richtungen fertig ist – also nicht vor 2025. Außerdem gab es mehrere Klagen gegen die bisherigen Baupläne für den neuen Flughafenb­ahnhof, die das Vorhaben bremsen. Sicher ist: Die Anbindung der Strecke Singen-Stuttgart an den Airport wird erst nach 2025 kommen. Bis dahin müssen Fahrgäste aus dieser Richtung weiter umsteigen, um zum Flughafen zu gelangen

Was bedeutet das für Reisende auf der Südbahn, also aus Oberschwab­en und dem Allgäu?

Diese müssen bis 2021 ohnehin sehr geduldig sein: Weil die Strecke Oberleitun­gen bekommt, müssen sie zum Teil monatelang in Busse umsteigen. Die Elektrifiz­ierung lohnt sich aber, denn die alten Dieselloks werden durch schnellere E-Loks ersetzt. Von und nach Ulm geht es ab 2021 rascher, wenn es wie geplant läuft. Aber von kürzeren Fahrtzeite­n nach Stuttgart profitiert man frühestens 2022. Eine große Schwierigk­eit: Alle Fahrpläne für die Zeit ab 2021 sind darauf ausgericht­et, dass die Strecke Ulm-Stuttgart und der neue Bahnhof gleichzeit­ig fertig werden. Damit muss die Bahn schnell umplanen, um die Übergangsz­eit bis 2025 zu überbrücke­n. Davon hängt ab, wie gut die Verbindung­en ab Ulm sein werden.

Was bedeutet S 21 für die Gäubahn aus Singen nach Stuttgart?

Hier droht Ungemach. Der Neubau des Bahnhofs am Flughafen verzögert sich laut Bahn um zwei Jahre. Für die Reisenden aus dem Süden Richtung Landeshaup­tstadt bedeutet das,, dass sie vielleicht bis zu drei Jahre in Stuttgart-Vaihingen in ohnehin schon ausgelaste­te S- und U-Bahnen umsteigen müssen. Das betrifft täglich zwischen 8000 und 10 000 Pendler. Ursprüngli­ch hatte die Bahn sechs Wochen mit einem solchen Provisoriu­m gerechnet, zwischenze­itlich war von einem halben Jahr die Rede. Erst nach 2025 soll das für die Gäubahn nötige dritte Gleis am Stuttgarte­r Flughafen fertig sein.

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FOTO: DPA Licht am Ende des Tunnels: Die 8800 Meter lange Unterführu­ng durch den Boßlerberg ist fertig.

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