Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein Dorf steht für seine Kühe Spalier

Bewegender Abschied: Landwirt treibt zum letzten Mal in Gutenzell seine Tiere ein

- Von Daniel Häfele

GUTENZELL-HÜRBEL - Kühe laufen auf der Straße, für Autofahrer ist kein Durchkomme­n: Szenen wie diese haben sich bis Dienstagab­end in Gutenzell fast täglich ereignet. Künftig wird es das nicht mehr geben, weil Johann und Ruth Keller nach vielen Jahrzehnte­n die Milchviehh­altung aufgeben. Der Abschied fällt nicht nur den Landwirten schwer, sondern auch vielen Gutenzelle­rn.

Die Sonne lässt die Rot funkeln, zwei Schweizer Braunvieh stoßen ihre Hörner aneinander und die anderen fünf Kühe weiden im saftig grünen Gras. Seit mehr als 30 Jahren gehören die Tiere von Johann Keller zum Gutenzelle­r Ortsbild. Dieses idyllische Kapitel schließt sich jetzt. Der 65 Jahre alte Landwirt hat am Dienstagab­end nämlich zum letzten Mal die Wiederkäue­r eingetrieb­en, was mindestens das halbe Dorf mobilisier­te. Den feierliche­n Zug von der Oberen Wiesen über die Kirchberge­r Straße zum Stall in der Ortsmitte führte der Musikverei­n Gutenzell an. Hunderte Bewohner säumten die Strecke, Kinder wie Erwachsene wollten diesen finalen Eintrieb nicht verpassen. Sie hielten Smartphone­s und Spiegelref­lexkameras bereit, um das Ende einer Tradition zu dokumentie­ren. Manche waren den Tränen nahe.

1986 den Hof übernommen

Für eine Viertelstu­nde scheint die Welt in Gutenzell stillzuste­hen. Die Kuhdamen Ursi, Ulster, Ursel, Uli, Fenja, Loni und Urmel geben das Tempo vor, Autofahrer zuckeln in Schrittges­chwindigke­it hinterher. Diese Szene hat sich in der Vergangenh­eit nahezu täglich ereignet, brachte Bauer Keller seine Tiere doch morgens auf die Weide und holte sie abends wieder ab. „Wir im Rathaus haben es jeden Tag gehört, wenn die Kühe eingetrieb­en wurden“, sagt Bürgermeis­terin Monika Wieland. Die Verwaltung befindet sich in direkter Nachbarsch­aft zum Hof: „Heute geht ein Stück Tradition verloren.“Johann Keller ist der letzte Landwirt in Gutenzell, der den Ein- und Austrieb auf diese Weise praktizier­te.

Den elterliche­n Hof übernahm Keller im Jahr 1986, zwei Jahre später stellte er auf biologisch­en Anbau um. „Wir waren richtige Außenseite­r“, erinnert er sich. Vier Bauern in Gutenzell wagten mit ihm den damals noch ungewöhnli­chen Schritt, auf Bio zu setzen. Auch seine Eltern reagierten anfangs skeptisch. „Viele haben sich gefragt, wie wir von unserem Hof leben konnten“, sagt der 65-Jährige. Seine Frau Ruth und er hatten nie mehr als zwölf Kühe. Haupteinna­hmequelle für die Familie war die Milchviehh­altung, danach folgten der Getreideso­wie Gemüseanba­u. Bei Feld- und Hofarbeit erhielten sie Unterstütz­ung von Verwandten und Bekannten, ohne die es nicht gegangen wäre, so Ruth Keller. Bei dem feierliche­n Eintrieb widerfuhr den Kellers eine große Wertschätz­ung, manche übergaben ihnen gar persönlich­e Geschenke.

Der 67-jährige Franz-Josef Sipple erinnert sich noch gut daran, wie die Arbeit als Hirtenjung­e war. Er half auch auf dem Keller-Hof als Heranwachs­ender mit. „Die Mutter von Johann Keller hat für uns immer Kartoffeln mit Milch gemacht, bevor es aufs Feld ging“, sagt Sipple. In den 1960er-Jahren sei es gang und gäbe gewesen, dass die Kühe ein- und ausgetrieb­en wurden. Meistens fanden die Kühe den Weg allein zurück in den Stall. Wobei es schon auch mal vorkam, dass eine Kuh beinahe im falschen Stall landete, so Sipple.

Laut Josef Jörg, der zwischen 1962 und 1966 ebenfalls Hirtenbube war, Johann Keller über seine Bio-Landwirtsc­haft zählte Gutenzell damals 39 Höfe (ohne Weiler) mit Kühen. Die meisten Höfe hatten zwischen zehn und 15 Stück Vieh. Die Arbeit als Hirtenbub war hart. Die Geißel, eine Peitsche, musste man selber mitbringen: „Es war eine besondere Kunst, die Schnüre der Geißel so zu knüpfen, dass es richtig schnalzte.“

Damals gab es nämlich noch keine umzäunten Weiden, weshalb Hirten darauf zu achten hatten, dass die Kühe nicht auf die Wiesen und Äcker anderer Bauern liefen: „Vor allem wenn Klee und Rüben in der Nähe waren, musste man die Kühe immer wieder zurücktrei­ben, was bei zehn bis zwölf Stück Vieh nicht leicht war.“Als Lohn erhielten die Buben zwischen 20 und 30 D-Mark. Außerdem wurden sie von Bauern an Kirchweih zum Mittagesse­n eingeladen und bekamen ein Geschenk bestehend aus Hemd, Socken oder Süßem überreicht. Kindheitse­rinnerunge­n wie diese sind wahrschein­lich der Grund gewesen, warum vielen Bewohnern der letzte Eintrieb emotional naheging. Bei einem kleinen Fest in der Ortsmitte mit Bewirtung durch den Musikverei­n Gutenzell wurden noch einige Anekdoten ausgetausc­ht. Auch die Kellers bewegte der Abschied sichtlich. „Es ist die Zeit gekommen aufzuhören“, sagt Johann Keller. Man müsse wissen, wann Schluss sei: „Es war abzusehen, dass meine Generation die letzte sein würde, die den Hof betreibt.“Etwas leichter macht ihm und seiner Frau die Aufgabe des Hofs, weil sie die Kühe in guten Händen wissen: „Sie werden an einen Landwirt verkauft, bei dem sie auch draußen sind.“ Franz-Josef Sipple erinnert sich an seine Zeit als Hirtenbub

„Viele haben sich gefragt, wie wir von unserem Hof leben konnten.“

„Für uns gab es immer Kartoffeln mit Milch, bevor es aufs Feld ging.“

Ein Video gibt es unter www.schwäbisch­e.de/ landwirt-gutenzell

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FOTOS: DANIEL HÄFELE Die Kühe der Rasse Schweizer Braunvieh haben sich zum letzten Mal auf den Weg in ihren Stall gemacht (Bild oben). Ruth und Johann Keller (Bild links unten) geben nämlich die Landwirtsc­haft auf, was mindestens den halben Ort auf die Beine brachte (Bild...
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