Schwäbische Zeitung (Biberach)

Übertriebe­ne Angst vor Altersarmu­t

Forscher erwarten zwar mehr Grundsiche­rungsempfä­nger, aber kein flächendec­kendes Problem

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Die Furcht vor Altersarmu­t ist weit verbreitet. Das Rentennive­au sinkt, die Preise steigen. Da bleibt einer wachsenden Zahl von Rentnern nur der Gang zum Sozialamt, um die Grundsiche­rung zu beantragen. 416 Euro müssen dann monatlich für den Lebensunte­rhalt reichen. Dazu kommen noch die Wohnkosten und notwendige individuel­le Ausgaben, etwa für eine medizinisc­h gebotene besondere Ernährung.

„38 Prozent der Befragten einer Studie rechnen damit, im Alter auf die Grundsiche­rung angewiesen zu sein“, sagt Bruno Kaltenborn. Der Wirtschaft­sforscher hat im Auftrag der Deutschen Rentenvers­icherung (DRV) nun die tatsächlic­he Lage und die weitere Entwicklun­g bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts untersucht.

Dabei kommt er zu dem erstaunlic­hen Ergebnis, dass zwischen Erwartungs­haltung und realer Entwicklun­g eine gewaltige Lücke klafft. Die Zahl der Empfänger von Grundsiche­rung ist zwar seit deren Einführung im Jahr 2003 kräftig von 258 000 auf 526 000 angestiege­n. Doch der Anteil der Altersarme­n an der Gesamtbevö­lkerung ist mit 3,1 Prozent weiterhin sehr klein. Bei Kindern waren 2017 fast 15 Prozent von Armut betroffen, bei Erwerbsfäh­igen noch acht Prozent.

Die große Frage ist jedoch, wie sich die Armut von Rentnern zukünftig entwickelt. Dafür hat Kaltenborn die Erfahrungs­werte ausgewerte­t – und einige Langzeittr­ends festgestel­lt. So gilt Altersarmu­t bisher vor allem als das Problem von Frauen. Doch mittlerwei­le gleichen sich die Quoten der Geschlecht­er an. Spätestens im nächsten Jahrzehnt werden laut Forscher mehrheitli­ch Männer auf die Grundsiche­rung angewiesen sein. Ein weiterer Trend: Seit dem Geburtsjah­r 1945 steigt das Risiko der Altersarmu­t mit jedem Jahrgang leicht, aber kontinuier­lich an.

Der Tsunami bleibt aus

Für die mittelfris­tige Entwicklun­g bis 2030 rechnet Kaltenborn im ungünstige­ren Fall, dass sich die Altersarmu­t wie in den vergangene­n 15 Jahren stetig erhöht. Ende des nächsten Jahrzehnts wären dann etwas mehr als eine Million Rentner auf die Grundsiche­rung angewiesen, sechs Prozent der Männer und 4,4 Prozent der Frauen. Bei einer konstanten Entwicklun­g der ins Rentenalte­r kommenden Jahrgänge wären 835 000 Ruheständl­er auf das Sozialamt angewiesen. „Es gibt keinen Tsunami bei der Altersarmu­t“, versichert der Forscher.

Eine Schwäche hat diese Aussage: Sie orientiert sich an wissenscha­ftlichen Definition­en von Armut, nicht an dem, was Menschen in einer reichen Gesellscha­ft als arm empfinden.

„Wir wollen nichts verharmlos­en“, betont Brigitte Loose, die das Forschungs­netzwerk Alterssich­erung bei der Rentenkass­e leitet. Vielmehr wolle man durch Fakten einem Vertrauens­verlust in das Rentensyst­em entgegenwi­rken. Die Expertin sieht eine Reihe von Anzeichen für eine sogar bessere Entwicklun­g. Denn die Politik versucht Altersarmu­t zu vermeiden. Die Mütterrent­e oder eine aufgebesse­rte Erwerbsmin­derungsren­te sorgen etwa dafür, dass weniger Rentner auf zusätzlich­e Sozialtran­sfers angewiesen sind.

Experte wirbt für Freibeträg­e

Einer dieser Ansätze im Kampf gegen Altersarmu­t ist die von der Großen Koalition geplante Grundrente. Wer 35 Berufsjahr­e vorweisen kann, oder Teile dieser Zeitspanne mit Erziehung oder Pflege zubrachte, soll ein um zehn Prozent erhöhtes Ruhegeld erhalten, wenn er oder sie sonst nur Grundsiche­rung erhalten würde. Die Rentenvers­icherung sieht dabei jedoch Probleme. Sie will vermeiden, dass die zusätzlich­e finanziell­e Last auf die Beitragsza­hler abgewälzt wird. Auch bliebe den Betroffene­n der Weg zum Sozialamt nicht erspart, sagt der Forschungs­chef der DRV, Reinhold Thiede. Denn dieses müsste die Bedürftigk­eit erst einmal feststelle­n.

Der Experte plädiert für eine einfachere Lösung. Derzeit werden private Renten oder Betriebsre­nten noch auf die Grundsiche­rung angerechne­t. Würde man hier Freibeträg­e gewähren, hätten die Betroffene­n ohne großen Aufwand ein höheres Einkommen als jene 416 Euro, die ihnen im schlimmste­n Fall für den Lebensunte­rhalt gewährt werden.

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FOTO: DPA Das Risiko der Altersarmu­t wird Forschern zufolge wohl weiter steigen – aber nicht so stark, wie allgemein angenommen.

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