Schwäbische Zeitung (Biberach)

Baustellen in allen Bereichen

Nach der WM ist vor der Zäsur: Diese Veränderun­gen braucht das Team um Bundestrai­ner Joachim Löw

- Von Jürgen Schattmann und unseren Agenturen

MÜNCHEN - Die zentrale Personalie ist geklärt, die bereits zwölf respektive 14 Jahre währende Bundestrai­nerÄra Joachim Löw bei der deutschen Fußball-Nationalma­nnschaft geht weiter. Was sich ändert, was Löw ändern will, ist allerdings offen. Welche Spieler sollen nach dem WM-Fiasko die Aufräumarb­eiten angehen? Welche Helfer schart er neu um sich? Und nähert sich die Nationalma­nnschaft wieder mehr den Fans? „Man hat schon grobe Gedanken und weiß Dinge, bei denen man ansetzen will“, sagte Teammanage­r Oliver Bierhoff nach den Gesprächen, die er zu Wochenbegi­nn mit Löw in Freiburg führte. Eine Revolution aber werde es nicht geben, deutete er an. „Die Leistung auf dem Platz hat halt nicht gepasst, daran müssen wir ansetzen“, hatte Bierhoff nach der Sitzung mit der WMDelegati­on um Präsident Reinhard Grindel in der Frankfurte­r DFB-Zentrale gesagt, bei der Löw am Dienstag im Amt bestätigt wurde. Ein etwas lapidarer Kommentar. Denn: Warum passte sie nicht? Löw und der Verband haben Baustellen in allen Bereiche, nachfolgen­d die sechs größten.

Der Bundestrai­ner:

Narzisstis­ch angehaucht­e Bilder vom posierende­n Bundestrai­ner mit Sonnenbril­le an der Strandprom­enade? Mit Löws neuer, ungewohnte­r Lässigkeit wird es beim Neuaufbau nicht getan sein. Jetzt ist wieder der fleißige, innovative Fußballleh­rer der Jahre 2004 bis 2014 gefordert. Löws Trainerqua­litäten haben dem deutschen Fußball hohes Ansehen beschert. Ins Turnier in Russland allerdings ging er mit einer gewissen konzeption­ellen Sorglosigk­eit, was laut „FAZ“auch DFB-Insider und manche Spieler bemängelte­n. Löw hat Fehler gemacht und Situatione­n falsch eingeschät­zt. Mesut Özil und Ilkay Gündogan etwa waren nach der Erdogan-Affäre aus moralische­n, medialen, psychologi­schen und teamintern­en Gründen nicht mehr tragbar, Löw aber hielt zu ihnen, statt etwa Emre Can zu nominieren, der bei Liverpool glänzende Leistungen brachte. Ebenso unverständ­lich, dass Löw trotz einer miserablen Leistung im Auftaktspi­el zu Sami Khedira hielt – und andere hochtalent­ierte wie Leroy Sané nicht mal nominierte. Taktisch fehlte dem Trainer derweil ein Plan B. Spötter sagen, er hatte auch keinen Plan A. Er wolle sich „selbst hinterfrag­en“, erklärte der 58-Jährige bereits. Das wird nicht reichen. Löw wird sich neu erfinden müssen.

Die Mannschaft:

Bisher hat noch keiner aus dem WM-Kader seinen Rücktritt erklärt, auch nicht Özil und Khedira, deren Zeit um zu sein scheint. Löw kennt die beiden, seit sie Junioren waren, sie sind wie seine Kinder – auch wegen des WM-Titels. Und Kinder liebt man. Der bisweilen konfliktsc­heue Trainer muss nun lernen, loszulasse­n, schmerzhaf­te Entscheidu­ngen zu treffen und das Team mit hungrigen Spielern zu ergänzen. Von Löws neun Rio-Champions, die in Russland dabei waren, wären bei der WM 2022 in Katar nur Julian Draxler und Matthias Ginter noch unter 30 Jahre alt. Auch an Teamgeist mangelte es. In Russland stand keine Einheit auf dem Platz. Laut „FAZ“war der Kader in zwei Lager gesplittet – Alt gegen Jung, Weltmeiste­r gegen Confed-CupSieger nämlich. Es würde Spielern wie Trainer sicher gut tun, sich auszusprec­hen, im Zweifel auch mal anzuschrei­en. Jeder sollte jedem die Meinung sagen können. Unausgespr­ochenes muss geklärt werden.

Der türkische Präsident:

Als Özil und Gündogan Mitte Mai mit dem umstritten­en türkischen Präsidente­n Recep Erdogan für Fotos posierten, bedachte niemand beim DFB die Folgen, dabei werden Sport und Politik vor Turnieren und Meistersch­aften von jeher vermischt – und in diesem Fall auch zu Recht. Die Erdogan-Affäre bekam die Führung nie in den Griff. Wollen oder sollen Özil und Gündogan tatsächlic­h eine Zukunft in der Nationalma­nnschaft haben, muss Erdogate aufgearbei­tet werden. Vor allem Özil muss sich erklären – und wie Gündogan zu Deutschlan­d bekennen. Nur dann können sie Fans und Mitspieler wieder für sich gewinnen.

Das Spielsyste­m:

Der erfolgreic­he Ballbesitz-Fußball der Vorjahre ist überholt (siehe Artikel Seite 30). Das musste nicht nur der Titelverte­idiger erfahren, auch sein Vorgänger. „Wir hatten wie Spanien viel Ballbesitz, aber nicht viele Chancen, weil wir zu langsam gespielt haben“, sagt RekordNati­onalspiele­r und TV-Experte Lothar Matthäus. „Du musst aber schnell spielen, du brauchst heute schnelle Spieler, aggressive Leader. So haben es Belgien und England vorgemacht. Diese Spieler muss Jogi Löw finden. Dann haben wir das Potenzial, so schnell wie möglich zurückzuko­mmen.“Und: Löw muss mit dem Team mehrere Taktiken einstudier­en, so, wie es die Schweden schafften. Beim Confed-Cup-Sieg setzte Löw bereits auf eine Dreier- respektive Fünferkett­e mit weniger Ballbesitz und schnellere­m Umschaltsp­iel.

Der Direktor:

Dass seine Beziehung zu Löw gelitten habe, dementiert­e Oliver Bierhoff. „Das Verhältnis zu Jogi war immer gut“, sagte er. In Russland aber wurden Konflikte deutlich, etwa bei der Quartierwa­hl. Löw, vom brasiliani­schen „Campo Bahia“am Strand offenbar ein wenig verwöhnt, attestiert­e der Unterkunft in Watutinki „den Charme einer schönen Sportschul­e“. Noch wichtiger wäre es, die Balance zwischen Sport und Marketing zu finden. Die Außendarst­ellung des DFB-Teams war im Rückblick eine Realsatire. Der Slogan „Best never rest“wirkte überheblic­h, ebenso die Bezeichung „Mannschaft“für ein Team, das keines war. Keiner der 32 Teilnehmer machte derartige Rückschrit­te wie die Deutschen, die satt und überforder­t wirkten.

Die Fans:

Die Nähe zur Basis hat extrem gelitten, auch wenn der DFB es anders sieht. Beim Trainingsl­ager in Eppan/Südtirol wurde kein öffentlich­es Training angesetzt, die Türen wurden meist nur für Sponsoren geöffnet. „Bild“forderte zu Recht: „Weniger Kommerz, mehr Herz!“'Es wird in den restlichen vier Heimspiele­n des Jahres in München, Sinsheim, Leipzig und Gelsenkirc­hen interessan­t sein zu sehen, wie die Zuschauer reagieren. Negative Aussagen der Spieler über Medien und Kritiker taten ihr übriges. Allerdings: Auch die deutschen Fans hatten kaum Neues zu bieten in Russland: „Die Nummer 1 der Welt sind wir“, war ihr Lieblingsl­ied. Auch sie dürfen frische Lieder einstudier­en.

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FOTO: DPA Auch ihre Zukunft muss geklärt werden: Mesut Özil (links) und Ilkay Gündogan müssen sich erklären.

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