Schwäbische Zeitung (Biberach)
Weit weg vom Trubel
In den Allgäuer Hochalpen hauchen ein Hirte und ein ehemaliger Stuttgarter Unternehmer einer Alm neues Leben ein
OBERSTDORF - Der Blick schweift umher: Unter der Dunstglocke talauswärts liegt irgendwo die Allgäuer Ferienhochburg Oberstdorf – weit weg. Dort gibt es Läden, Bars, Hotels, viel Betrieb in den Gassen und auch sonst alles, was der moderne Mensch zu brauchen glaubt. Am Aussichtspunkt hoch oben auf rund 1300 Metern ist hingegen alles anders: Felswände, Bergwiesen, raue wie beschauliche Natur, wenig Leute. Manchmal kommen ein paar Wanderer vorbei. Zu hören sind sonst bloß gurgelnde Gebirgsbäche und Kuhglocken. „Griaß di auf der Petersalpe“, unterbricht Wolfgang Dallmeier das Sinnieren über erste Eindrücke beim Besuch seiner sommerlichen Heimstatt, einer Alm. Oder eben einer Alpe, wie die Hochweiden im alemannisch geprägten Allgäu heißen.
Dallmeier ist hier der Hirte. Ein drahtiger jüngerer Mann, der im kantigen Gesicht den für seinesgleichen typischen Vollbart trägt. Eben ein richtiger „Bergler“, wie die Berghirten im Allgäu genannt werden. „Mit Herz und Seele“, betont Dallmeier, während der siebenjährige Seppi barfuß aus der jahrhundertealten, hölzernen Wohnhütte Richtung Viehtränke stürmt. Der Kleine ist das jüngste seiner drei Kinder. Mutter Verena hat hinter der Hütte zu tun. Als die Frau später erscheint, meint sie: „Das Leben hier oben ist bei uns schon Familiensache. Da zieht jeder mit.“
Man könnte nun von bewährter Alp-Idylle sprechen. Oder von einer heilen Heidi-Bergwelt wie im Buch der Schweizer Autorin Johanna Spyri schwärmen. Wobei gerne unterschlagen wird, dass die von Romantikern beschworenen guten, alten Zeiten auf den Hochweiden körperlich zehrend und armselig waren. Davon abgesehen, bekommt jedoch auch die moderne Alpwirtschaft Risse. Sie gerät schleichend unter ökonomischen Druck – und dies trotz einer großzügigen öffentlichen Förderung zum Erhalt jener uralten Kulturlandschaften, deren Geschichte oft bis in die Keltenzeit zurückreicht.
Im gesamten bayerischen Alpenraum hat die Zahl der Hochweiden seit Mitte des 19. Jahrhunderts um Hunderte abgenommen. Rund 1400 Almen oder Alpen werden gegenwärtig
im Freistaat noch bewirtschaftet. Die Hälfte dieser Hochweiden liegt im Allgäu – inklusive der bayernweit einzigen Sennalpen für die Käserei. Eine regionale Besonderheit, deren Ursprung auf die Übernahme eidgenössischer Produktionstechniken in der Zeit um 1820 herum zurückgeht.
Hochgelegene Sennereien sind eine besonders fordernde Form der Alpwirtschaft. Rund 50 haben sich im Allgäu gehalten. Letztlich ist damit die Region zwischen Immenstadt, Oberstdorf, Sonthofen, Pfronten und Füssen nach wie vor ein Eldorado der Bergler oder Älpler. Die Fremdenverkehrswerbung nutzt dies auch gerne. Kernige Burschen, urige Hütten, würziger Bergkäse und
glückliche Kühe sollen Touristen anziehen. Doch selbst im Allgäu sind über Generationen hinweg Hochweiden verschwunden – beispielsweise auf dem kargen Gottesackerplateau in den Bergen westlich von Oberstdorf.
Die Gründe der Vorfahren hören sich seltsam modern an: geringe Rentabilität, ungünstige klimatische Einflüsse, landwirtschaftlicher Strukturwandel. Dies sind nach wie vor die Schicksalspunkte. Beispiel Klima: Im benachbarten Vorarlberg holen Bauern momentan ihr Vieh wegen Trockenheit von hochgelegenen Weiden. Probleme drohen aber auch durch die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft. Hochleistungsmilchkühe mit fast schon fassgroßen Eutern sind für die Alpwirtschaft untauglich.
Weniger Kühe, mehr Milch
Entsprechend fällt die Auskunft des Alpwirtschaftlichen Vereins Allgäu aus: „Die Zahlen bei den Kühen fallen ständig leicht.“Rund 2500 Exemplare seien es heuer. Alarm will man aber noch nicht schlagen. Die auf den Alpen verwendeten Rassen würden tendenziell mehr Milch geben als frühere Kuhgenerationen, wodurch nach wie vor genug Grundstoff für die Käserei da sei – überlebensnotwendig für die Sennalpen.
In der alpinen Sommerfrische wesentlich stärker vertreten ist traditionell das Jungvieh. Rund 28 000 Stück dürften wieder Bergwiesen im Allgäu abgrasen. Vom Prinzip her ist dies eine Entlastung ihrer heimischen Höfe – zumindest solange die Tierzahl überschaubar ist. Bei einem hundertfachen Viehbestand in Massenställen könnte der Transport in die Berge hingegen weniger attraktiv sein. Womöglich ließe er sich logistisch gar nicht mehr bewerkstelligen.
Solche die Zukunft verdunkelnden Betrachtungen scheinen aber auf der oben beschriebenen Petersalpe weit weg zu sein. Sie gehört zu jenen wenigen Beispielen, bei denen aufgebaut wird. Dafür steht zum einen Dallmeier als frischgebackener Pächter. 45 Stück Jungvieh hat der geborene Oberallgäuer auf Weiden, die sich bei der Hütte weit die Hänge hinaufziehen. „In den nächsten Jahren sollen es mehr Tiere werden“, berichtet er. Zudem möchte Dallmeier mit dem Käsen anfangen, wie dies schon frühere Generationen auf der Petersalpe getan haben. Man kann noch sehen, wo einst der Kupferkessel zum Erhitzen der Milch hing. Der alte Käsekeller ist auch noch da. Fürs erneute Sennen muss aber neu gebaut und eingerichtet werden.
An dieser Stelle ist es Zeit, Manfred Kurrle zu erwähnen. Kurrle ist ein inzwischen 82-jähriger ehemaliger Stuttgarter Unternehmer, den es in den 90er-Jahren ins Oberallgäu verschlagen hat. Ihm gehört die Petersalpe. Außerdem sind noch vier weitere, benachbarte Hochweiden in seinem Besitz. Insgesamt hat er vor mehr als 20 Jahren 965 Hektar Gebirgsland von jener Adelsfamilie gekauft, die einst Bayerns Monarchen stellten: den Wittelsbachern. 2006 machte Kurrle daraus die Naturschutzstiftung Allgäuer Hochalpen. „Eines der Ziele besteht im Erhalt und der Förderung der Alpwirtschaft“, sagt er. Das anfängliche Problem: Die Gebäude der Alpe waren ziemlich in die Jahre gekommen, Wege drohten zu verfallen, Weiden begannen mit Buschwerk zuzuwachsen.
Kurrle drehte die Entwicklung um. Viel Schweiß war nötig, dazu der Einsatz beträchtlicher finanzieller Eigenmittel. Vier seiner Alpen sind weitgehend saniert, weshalb er sich jüngst auf das letzte Projekt stürzen konnte: das Wiederbeleben der Petersalpe. Diesen Sommer lebt erstmals wieder ein Hirte während der ganzen Viehsaison hier oben. „Sonst kann man doch gar nicht der ganzen Arbeit nachgehen“, sagt Dallmeier.
Er konnte bereits als Bub Alperfahrung sammeln. „Dies hat die Leidenschaft dafür geweckt. Es ist ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur, den Tieren, dem Wetter“, berichtet Dallmeier. Im Gegensatz zu Zeiten vor 20 oder 30 Jahren zieht ein solches ÄlplerImage Leute von sonstwo auf die Hochweiden. Hirte sein gilt als chic. Bewerbungen gibt es laut Alpwirtschaftlichem Verein genug. Und auch genügend Zweifel, ob ein zivilisationsgeschädigter Büromensch aus Berlin die richtige Besetzung für eine Alpe ist. Bei Dallmeier gelten die Voraussetzungen als gut: Er kommt aus der Region, ist von klein auf an die Landwirtschaft gewöhnt und körperlich robust.
Gelernt hat er Zimmerer. Nebenbei ist Dallmeier noch Skilehrer. Dies führt zu einem kuriosen Arbeitsjahr: sommers Bergler, winters Skilehrer, dazwischen Zimmerer. Seine Frau Verena arbeitet drei Tage die Woche in der Allgäumetropole Kempten als Bauingenieurin. Wenn die Schulferien erlauben, dass die Kinder auf der Alpe sind, ist sie die restliche Woche auch hier oben. „Wir haben zusammen mehr als genug Arbeit“, meint Verena Dallmeier. Ihr Mann zählt auf: „nach dem Vieh schauen, Zäune kontrollieren, die Weideflächen pflegen und von Unkraut oder Gebüsch freihalten.“
Im Nebenerwerb Gastwirt
Soweit das eigentliche Hirtengeschäft. Daneben existiert auf der Petersalpe noch ein Gastraum samt einiger Bierbänke im Freien. Wanderer können sich mit einem Vesper versorgen und ihren Flüssigkeitsverlust mit Limonade oder Gerstensaft wettmachen. Das Geschäft trägt während der rund drei Monate des Bergsommers zum Familieneinkommen bei. Den eigentlichen Betrieb der Alpe trägt das Geld der Bauern für das auf den Weiden versorgte Vieh. Über das Bayerische Bergbauernprogramm gibt es zudem Zuschüsse. Für die Dallmeiers kommt es dabei darauf an, finanziell ein ähnliches Auskommen zu haben wie das unten im Tal der Fall wäre.
Wie unter Deutschen üblich, wird aber auch auf der Alpe nicht gerne übers Einkommen gesprochen. Klar ist aber, dass die Petersalpe mehr abwerfen würde, wenn gekäst würde. „Vielleicht schon nächstes Jahr“, hofft Dallmeier. Dann beschließt er, dass es für den Moment genug ist mit der Unterhaltung: „Ich muss zum Vieh – pfiat di.“Kurz ist der Mann noch auf einer Wiese zu sehen – bis ihn eine Kuppe der Sicht entzieht.
„Es ist ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur, den Tieren, dem Wetter.“Wolfgang Dallmeier über das Leben auf der Petersalpe