Schwäbische Zeitung (Biberach)

Wenn das Leben unerschwin­glich wird

Die Politik Erdogans lässt die türkische Lira abstürzen – Welle von Konkursen erwartet

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Die wachsenden Wirtschaft­sprobleme in der Türkei wirken sich immer mehr auf den Alltag aus. Mit stummem Entsetzen sehen die Türken in diesen Tagen zu, wie ihr Geld vor ihren Augen wegschmilz­t. Selbst ein neues Netzkabel für einen Computer wird da zum Problem.

Der Elektrohän­dler in Istanbul blickt auf seine halbleeren Regale und hebt bedauernd die Hände. „Die habe ich nicht mehr nachbestel­lt, denn die kommen aus dem Ausland“, sagt er. „Ich habe sie bisher für 20 Lira verkauft, doch dafür bekomme ich sie jetzt selbst nicht mehr.“Und nun? Der Händler zögert kurz, dann zieht er das Netzkabel aus seiner Registrier­kasse und reicht es über den Tresen. Die Kasse, so impliziert er mit seiner Geste, werde er wohl nicht mehr lange brauchen.

Auch die Banken sind gefährdet

Die Lira hat seit Jahresbegi­nn fast ein Drittel ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. Die rohstoffar­me Türkei bestreitet fast ihre gesamte Energiever­sorgung mit Hilfe von Einfuhren von Öl und Gas – die in Dollar gehandelt werden. Die Schulden türkischer Unternehme­n in ausländisc­hen Währungen werden auf mehr als 200 Milliarden Dollar geschätzt. Manche Experten rechnen mit einer Welle von Konkursen, wenn die Firmen ihre Kredite nicht mehr bedienen können, weil ihre Lira-Einnahmen immer wertloser werden. Auch die Banken, die den Unternehme­n Geld geliehen haben, sind gefährdet.

Und doch bleibt der kollektive Aufschrei aus. Das liegt zum einen an den Medien, die zum allergrößt­en Teil auf Regierungs­linie sind und den bis zu sechsproze­ntigen Wertverlus­t der Lira an einem einzigen Tag diese Woche nicht einmal erwähnten. Zum anderen glauben viele Türken der Regierung, wenn sie sagt, die Wirtschaft­skrise sei Folge eines Komplotts feindliche­r ausländisc­her Mächte. Als Präsident Recep Tayyip Erdogan die Bürger vor einigen Tagen zum wiederholt­en Male aufrief, ihre Dollar-Ersparniss­e in Lira umzuwandel­n, um so die Landeswähr­ung zu stützen, ging das als Appell an den Patriotism­us durch. Erdogan sprach von einem „Wirtschaft­skrieg“, den die Türkei durchstehe­n müsse. Bisher konnte er damit Proteste abbiegen.

In den Familien und unter Freunden sind die Sorgen um Geld und Auskommen das wichtigste Thema. Der Lira-Absturz und eine Inflations­rate von fast 16 Prozent machen den Alltag plötzlich sehr viel teurer. Der staatliche Mindestloh­n von 1600 Lira netto im Monat, mit dem viele Türken auskommen müssen, war schon Anfang des Jahres mit einem Gegenwert von 352 Euro nicht üppig. Heute sind es nur noch 260 Euro.

In den vergangene­n Wochen erlebten die Türken eine Welle von Preisanheb­ungen: Brot, Strom, Gas – alles wurde teurer. Einen ebenfalls anstehende­n Preisansti­eg beim Benzin konnte die Regierung nur durch einen eiligen Steuernach­lass bei Kraftstoff ausgleiche­n. Der Kursverfal­l der Lira habe allein die Unternehme­nsverschul­dung seit Februar um mehr als 340 Milliarden Lira anschwelle­n lassen, schrieb der regierungs­kritische Wirtschaft­sexperte Mustafa Sönmez. „Das zerreißt sowohl die Firmen als auch die Banken.“Sönmez und andere Experten halten inzwischen ein Hilfspaket des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) für die Türkei für möglich.

In der Krise von 2001 griff der IWF ein und verpasste dem Land ein Konjunktur­programm – das für viele Normalbürg­er ebenso schmerzhaf­t war wie die Krise selbst.

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FOTO: AFP Die türkische Lira hat seit Jahresbegi­nn fast ein Drittel ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren.

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