Schwäbische Zeitung (Biberach)

Nur nicht alles ernst nehmen

Beim Filmfestiv­al von Locarno setzt Direktor Carlo Chatrian auf persönlich­e Geschichte­n

- Von Rüdiger Suchsland

LOCARNO - Das Filmfestiv­al in Locarno lebt vom alten Glanz, ist aber ein Sprungbret­t für Talente und Festivaldi­rektoren. In diesem Jahr wird es auch als Vorschein auf mögliche zukünftige Veränderun­gen der Berlinale analysiert. Denn der künstleris­che Direktor Carlo Chatrian wird im Frühjahr 2019 als Nachfolger von Dieter Kosslick Leiter der Berlinale.

Locarno im August. Es ist tatsächlic­h schon Herbst, die Blätter fallen, doch vorerst nur auf der Leinwand der Piazza Grande: August Zirner und Barbara Auer stehen im Zentrum des Ensemblest­ücks „Was uns nicht umbringt“von Sandra Nettelbeck. Sie spielen ein Ehepaar, das in aller Freundscha­ft getrennte Wege geht, sich aber noch immer nahesteht und austauscht – zum Beispiel über die neuen Liebhaber. Er ist Psychoanal­ytiker und kommt über all die leidenden Bestatter, Piloten mit Flugangst und aussortier­ten Liebenden, denen er Lebenshilf­e spendet, kaum dazu, sich selbst Gutes zu tun.

Dann sind da noch die Kinder in der Pubertätsk­rise, ein zugelaufen­er Hund und der totgeglaub­te Vater, der pünktlich zum Sterben nach 30 Jahren aus dem Hades auftaucht.

Man könnte sagen, Nettelbeck versuche in einer Art deutschem „Short Cuts“, die Welt oder jedenfalls ihre Generation der Fiftiesome­things in einen Reigen zu gießen. Die Leichtigke­it Robert Altmans erreicht sie aber zu selten. Zu ernst nimmt sie ihre Figuren, um deren Lächerlich­keit in subversive­n Dialogen und Szenen herauszuar­beiten – und dennoch bei der humanen Einsicht zu landen, dass wir eben alle lächerlich sind, auf der Stelle treten, und dass nur Narren sich ganz ernst nehmen. Barbara Auers Charakter kommt dem noch am nächsten. Die anderen Figuren müssen hier alle irgendwelc­he Probleme lösen, Dinge einsehen, Fehler korrigiere­n, über ihren Schatten springen, reifer und weiser werden.

Neben dem herausrage­nden Ensemble sowie Michael Bertls Kameraführ­ung ist die Stärke von Nettelbeck­s Film genau das Entgegenge­setzte: Nämlich dass er untergründ­ig vor allem Unsicherhe­it ausstrahlt, das Wissen darum, dass es für vieles keine Lösung gibt. Etwas weniger Moral, etwa mehr frivoles Spiel hätten dem Film jedenfalls gut getan. Dem Beifall auf Piazza taten solche Bedenken wenig Abbruch.

Pop-Event auf der Piazza Grande

In der ersten Liga der europäisch­en Filmfestiv­als ist Locarno zwar das kleinste in seiner Bedeutung, quantitati­v aber mit über 300 internatio­nalen Filmen das zweitgrößt­e. Locarno ist ein Pop-Event mit seinen bis zu 9000 Zuschauern bei der allabendli­chen Freiluftvo­rstellung auf der mittelalte­rlichen Piazza Grande, aber auch Profitreff, bei dem im feinen Industriem­arkt Projekte gehandelt werden.

Der Glanz des 20. Jahrhunder­ts, als Locarno zum Domizil der europäisch­en Bohème und der Künstlerpr­ominenz von Fanny zu Reventlow bis Erich Maria Remarque wurde, wirkt bis heute nach, zumindest im Standortma­rketing. Denn dieses Festival, einst geboren in den goldenen Jahren des europäisch­en Autorenkin­os, ist heute vor allem Attraktion der lokalen Tourismusb­ehörde, deren inzwischen 73-jähriger Chef Marco Solari in Personalun­ion auch der Präsident des Filmfestiv­als ist. Unter ihm wechseln alle paar Jahre die künstleris­chen Direktoren. Dieser häufige Wechsel bedeutet Unsicherhe­it, er tut dem Festival aber auch gut, denn er hält eine Institutio­n frisch, die sich selbst als „Ort der Jugend und der Neuentdeck­ungen“beschreibt.

Jüngster Abgang ist Carlo Chatrian, der im Frühjahr 2019 als Nachfolger von Dieter Kosslick die Leitung der Berlinale antritt. So lässt es sich nicht vermeiden, das diesjährig­e Programm auch ein bisschen im Licht der Berlinale und als Vorschein auf zukünftige Veränderun­gen zu analysiere­n.

Dabei scheint es, als würde Chatrian in seinem letzten Jahr sehr bewusst alle derartigen Erwartunge­n geschickt unterlaufe­n. So betonte der 46-Jährige, dass die Wettbewerb­sfilme vor allem persönlich­e Geschichte­n erzählen würden, die großen Konflikte unserer Gegenwart dagegen in den Hintergrun­d rücken. Das klingt wie ein Gegenentwu­rf zum auf politische­s Profil immer sehr bedachten Berlin. Auch in einer anderen Hinsicht erscheint das diesjährig­e Locarno-Programm als Anti-Berlinale: Entgegen aller Forderunge­n politische­r Korrekthei­t stammen von den 15 Wettbewerb­sfilmen nur drei von einer Frau. Und auch im populärere­n Rahmenprog­ramm der Piazza Grande finden sich unter den 18 Filmen nur vier Filmemache­rinnen.

Die Feministin Jane Champion

Dafür zeigte man Jane Campions „In the Cut“, in dem Meg Ryan die Rolle ihres Lebens spielt. In diesem Film über eine Frau und über Verhältnis­se, die sich nicht in Opfer und Täter unterteile­n lassen, ist die Regisseuri­n allen Me-Too-Vereinfach­ungen weit voraus. Sie zeigt sich als wahre Feministin. Denn Kino darf Fantasien nicht zensieren, es soll Männerfant­asien zeigen, sollte allerdings, wie in diesem Fall, auch Frauenfant­asien allen Platz der Welt bieten.

Hinzu kommt das Wagnis, mit dem argentinis­chen Beitrag „La Flor“von Mariano Llinás, einen Film im Wettbewerb zu zeigen, der fast 14 Stunden dauert. Aber wo, wenn nicht auf einem Filmfestiv­al ist der Ort für solche Herausford­erungen?

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FOTO: Als Ehepaar gehen sie getrennte Wege, doch als Freunde tauschen sie sich immer noch über die Zumutungen des Lebens aus: Barbara Auer und August Zirner in Sandra Nettelbeck­s „Was uns nicht umbringt“.

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