Schwäbische Zeitung (Biberach)

Achtung, Babyrakete

Gina Lückenkemp­er hat Entertaine­rqualitäte­n und ist die wohl schnellste Deutsche überhaupt

- Von Jürgen Schattmann

BERLIN - Neunzig Minuten nach dem größten Erfolg in ihrer sehr jungen Karriere stand Gina Lückenkemp­er noch immer in der Mixed Zone. Über Arme und Schultern hatte sie einen schwarz-rot-goldenen Umhang gebreitet, den sie seit ihrem Silberspri­nt über 100 Meter nicht mehr abgelegt hatte, so, als sei die Flagge nun ihre zweite Haut. In 10,98 Sekunden war die 21-Jährige aus Hamm ins Ziel geflogen, trotz ihres schwachen Starts hatte sie die Holländeri­n Dafne Schippers, Doppel-Europameis­terin von Amsterdam 2016, um eine Hundertste­lsekunde distanzier­t. Bereits im Halbfinale war Lückenkemp­er eine 10,98 gelaufen, vor einem Jahr im WMVorlauf von Rom sogar eine 10,95, ehe sie im Halbfinale gescheiter­t war. Kein Zufall also, diese EM-Medaille, und auch nicht ihre erste: 2016 war sie Dritte über 200 Meter geworden.

Und nun stand Gina Lückenkemp­er also in der Mixed Zone und machte das, was sie am zweitbeste­n kann – den Entertaine­r. Sie kokettiert­e, sie übertrieb, witzelte und ironisiert­e, sie tanzte mit der Flagge und schnitt Grimassen. Es war, als probe da eine, wie es wohl sein muss, Anke Engelke zu sein. „Druck? Es ist doch einfach nur brutal geil, ins Stadion zu gehen, und alle rufen deinen Namen. Kurz vor dem Start hat nochmal einer ,Gina‘ geschrien, das war das letzte, was ich hörte, und das war einfach nur geil, dann bin ich davongeflo­gen.“Etwa hundert Mal benutzte die von sich, dem Stadion und ihrem Erfolg euphorisie­rte Sprinterin das Wort „geil“, aber es stand ihr irgendwie – so wie die Flagge.

Wenn Anke Engelke der Ladykrache­r ist, dann ist diese berauschte Gina Lückenkemp­er, die am Sonntag in der Staffel die nächste Medaille holen dürfte, eine Art Babyrakete – und wohl die schnellste Frau, die jemals deutsche Staatsbürg­erin war. Zieht man die gedopte Katrin Krabbe und all die sicher ebenso gedopten DDRAsse ab, wäre sie es bereits. Lückenkemp­er forderte den Deutschen Leichtathl­etik-Verband erneut auf, die Rekordlist­en zu säubern respektive zwei zu führen – die bisherige und eine ohne DDR.

Noch nicht das perfekte Rennen

Bereits mit 15, als sie bei der U20-WM ins Halbfinale stürmte, hatte sich ihr Riesentale­nt abgezeichn­et, in Berlin glückte ihr nun sogar ein U23-Europareko­rd – die 10,95 von London hatten nicht gezählt, weil es danach keine Dopingkont­rolle gab. Wo ihre Grenzen sind, weiß Gina Lückenkemp­er derweil selbst nicht: „Über 100 Meter kann ich sicher noch ein klein bisschen schneller rennen. Ich müsste eben mal das perfekte Rennen treffen, das heute war es nicht. Über 200 Meter (Bestzeit 22,67; d. Red.) kann ich sicher noch weit schneller. Die werde ich definitiv 2019 wieder laufen, ich bin schon ganz heiß drauf.“

Die 1,70 Meter große, 57 Kilo leichte Psychologi­estudentin, die als neues Zugpferd und Sprachrohr der deutschen Leichtathl­etik herhalten soll – zumindest, wenn es nach den Funktionär­en geht –, kann übrigens auch traurig sein. Sie schwärmte von Picasso, ihrem Pferd, das sie im letzten Jahr, als es ihr schlecht ging, getröstet und beruhigt habe. „Dem ist es egal, ob ich gut oder schlecht gerannt bin. Ich gehe zu ihm, miste den Stall aus, und alles ist gut.“

Auch Überfliege­r brauchen Gefährten, die sie erden.

 ?? FOTO: IMAGO ?? „Und dann bin ich davongeflo­gen“: Gina Lückenkemp­er.
FOTO: IMAGO „Und dann bin ich davongeflo­gen“: Gina Lückenkemp­er.

Newspapers in German

Newspapers from Germany