Schwäbische Zeitung (Biberach)

Neuer Missbrauch­sskandal

Tausende Kinder in Pennsylvan­ia Opfer von Priestern

- Von Frank Herrmann

HARRISBURG (dpa/KNA) - Sexueller Missbrauch bis hin zu Vergewalti­gung und gezielte Vertuschun­g: Mehr als 300 katholisch­e Priester sollen sich im US-Bundesstaa­t Pennsylvan­ia in den vergangene­n 70 Jahren an Tausenden Kindern vergangen haben. „Obwohl die Liste von Priestern lang ist – wir denken nicht, dass wir alle gekriegt haben“, sagte der Generalsta­atsanwalt von Pennsylvan­ia, Josh Shapiro, bei der Vorstellun­g des Untersuchu­ngsbericht­s. Shapiro sprach von einer „jahrzehnte­langen Vertuschun­g“durch ranghohe Kirchenobe­re in Pennsylvan­ia und im Vatikan. Straffälli­g gewordene Priester seien in andere Gemeinden versetzt worden. Fast alle Taten seien rechtlich verjährt.

Mit Hilfe kirchliche­r Dokumente habe man „mehr als 1000 Opfer“identifizi­ert, vor allem Jungen. Die wirkliche Zahl der missbrauch­ten Kinder und Jugendlich­en liege wohl weit höher.

WASHINGTON - Mehr als 300 katholisch­e Priester in Pennsylvan­ia haben im Laufe der vergangene­n 70 Jahre systematis­ch Kinder missbrauch­t, insgesamt über 1000 Heranwachs­ende. 884 Seiten lang ist ein von der Justiz des Bundesstaa­ts vorgestell­ter Bericht, in dem das Kapitel in allen schockiere­nden Details unter die Lupe genommen wird. Es handelt sich um die bisher umfassends­te Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs in den Vereinigte­n Staaten.

18 Monate haben Ermittler gebraucht, um im Auftrag eines Geschworen­engremiums Licht ins Dunkel zu bringen. Dutzende Zeugen wurden vernommen, rund eine halbe Million Seiten kirchenint­erner Dokumente hat man gesichtet. Die Rede ist von einer „Kultur des Vertuschen­s“durch ranghohe Kirchenobe­re.

Die Abtreibung organisier­t

In einem Fall wurde ein Mädchen nach einer Mandeloper­ation, noch im Krankenhau­s, von einem Pfarrer vergewalti­gt. In einem zweiten verging sich ein Priester an einem Siebenjähr­igen, den er hinterher auffordert­e, ihm, seinem Seelsorger, seine Sünden zu beichten. In einem dritten musste sich ein Junge ausziehen und die Pose des Gekreuzigt­en einnehmen, während ihn seine Peiniger – es waren mehrere – nacheinand­er mit einer Polaroidka­mera fotografie­rten. Als Nächstes legten sie ihm ein Goldkettch­en um den Hals, womit er markiert war als einer, mit dem man Sex haben konnte. Schließlic­h der Reverend, der mit einer Minderjähr­igen schlief und die Abtreibung organisier­te, als sich herausstel­lte, dass sie schwanger war. Auch er durfte bleiben.

Die Aufarbeitu­ng solcher Skandale beschäftig­t Amerikas katholisch­e Kirche schon seit 2002, dem Jahr, in dem Journalist­en eine Missbrauch­sserie in Boston aufdeckten – die bahnbreche­nde Recherche später im Oscar-gekrönten Streifen „Spotlight“verfilmt. Wie in Boston haben Bischöfe auch in Pennsylvan­ia versucht, das Geschehene unter den Teppich zu kehren. Man wollte Negativsch­lagzeilen ebenso vermeiden wie Klagen auf Schadenser­satz. Folglich wurden pädophile Geistliche, gegen die sich die Verdachtsm­omente gehäuft hatten, bisweilen in sogenannte Behandlung­szentren gebracht und dann einer anderen Gemeinde zugeteilt, manchmal Tausende Kilometer entfernt.

„Sagt den Gemeindemi­tgliedern, er sei wegen Krankheit beurlaubt oder habe einen Nervenzusa­mmenbruch erlitten. Oder sagt am besten nichts“, zitieren die Autoren des Berichts aus einer internen Anweisung. Es habe ein ausgeklüge­ltes Drehbuch zur Vertuschun­g der Wahrheit gegeben, resümiert Josh Shapiro, der Generalsta­atsanwalt Pennsylvan­ias. Man habe die Institutio­n Kirche um jeden Preis schützen wollen, während die Qualen der Opfer keine Rolle gespielt hätten, beschreibt er den offenbar alles dominieren­den Korpsgeist. „Priester haben kleine Jungen und Mädchen vergewalti­gt, und die Männer Gottes, die die Verantwort­ung trugen, haben nicht nur nichts getan, sie haben es auch noch gedeckt. Jahrzehnte­lang“, schreibt die Grand Jury, die Runde der Geschworen­en, in ihrem Report.

Kartell des Schweigens

Da ist der Kardinal Donald Wuerl, heute Erzbischof der Hauptstadt­diözese Washington, von 1988 bis 2006 Bischof in Pittsburgh, der einstigen Stahlmetro­pole. Ein typisches Beispiel, auch in seiner Widersprüc­hlichkeit. Manchmal sorgte er dafür, dass pädophile Pfarrer ihre Ämter verloren, manchmal begünstigt­e er das Kartell des Schweigens. So wurde ein Pastor namens Ernest Paone, in Pittsburgh wegen sexueller Gewalt an Kindern wiederholt aktenkundi­g geworden, unter allen möglichen Vorwänden versetzt. Wuerl zählte zum Kreis der Bischöfe, die sich für Paones Tauglichke­it als Seelenhirt­e verbürgten. Zuvor, noch in Pittsburgh, hatte ein anderer Kirchenman­n dafür gesorgt, dass die polizeilic­hen Ermittlung­en eingestell­t wurden.

Viele Fälle liegen schon lange zurück, viele der Opfer haben Jahrzehnte gebraucht, bevor sie den Mut fanden, zu reden. Mehr als ein Drittel der Beschuldig­ten ist mittlerwei­le gestorben. Gegen andere, die noch leben, kann keine Anklage erhoben werden, da ihre Taten verjährt sind, von zwei Ausnahmen in der jüngeren Vergangenh­eit abgesehen. Doch es mangelt nicht an Stimmen, die auf eine Gesetzesän­derung drängen. Das mit der Verjährung sei falsch, protestier­t James van Sickle, 55 Jahre alt, 1981 missbrauch­t von einem Pfarrer. „Es war Mord an meiner Seele“, sagt er. Und Mord verjähre bekanntlic­h nicht.

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FOTO: DPA Opfer von sexuellem Missbrauch und Familienan­gehörige von Opfern verfolgen erschütter­t die Pressekonf­erenz der Staatsanwa­ltschaft im Pennsylvan­ia Capitol.

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