Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der schwarze Fleck

Maxim Biller erfindet in „Sechs Koffer“die Geschichte seiner Familie neu – In der Auswahl für den Buchpreis

- Von Welf Grombacher

Sein Klassenleh­rer auf dem Gymnasium soll jedem Schüler eine Tafel Schokolade versproche­n haben, der im Unterricht auf geistreich­e Weise widersprac­h. Maxim Biller bekam oft Schokolade. Das erklärt so einiges. Seit Jahren arbeitet der in Berlin-Mitte lebende Schriftste­ller an seinem Image als Enfant terrible des deutschen Literaturb­etriebs. Erinnert sei nur an seine Ausfälle gegenüber Kollegen im Literarisc­hen Quartett, dem er von Oktober 2015 bis Dezember 2016 angehörte. Damals hätten viele ein polterndes Interview mit ihm gewollt: „Ich war kurz Donald Trump.“

Nach dem Ausstieg aus dem Quartett geht es bei Biller jetzt wieder ruhiger zu. Er kann zum Tagesgesch­äft zurückkehr­en. Das sind Romane. Sein neuester heißt „Sechs Koffer“, und Maxim Biller, der 1960 in Prag geboren wurde und mit zehn Jahren nach Deutschlan­d kam, erfindet darin die eigene Familienge­schichte neu. Das Buch kreist um den Tod des Großvaters, einen „freundlich­en, stillen Juden aus Ruthenien“, der in Moskau illegalen Tauschhand­el betrieben hat und während des „stalinisti­schen Irrsinns“wegen ein paar schwarz verdienter Dollars vom KGB verhaftet und gehängt wurde. Ein schwarzer Fleck in der Geschichte der Familie, über den von den Erwachsene­n keiner spricht, was den jungen Maxim neugierig macht.

Wer hat den Großvater denunziert? War es einer seiner vier Söhne? Lev, der seit Jahren jeden Kontakt zur Familie meidet? Bruder Dima, der fünf Jahre im Gefängnis saß, weil er aus der CSSR fliehen wollte? Oder dessen russische Ehefrau Tante Natalia, der Kontakte zum Geheimdien­st nachgesagt werden? In sechs Kapiteln erzählt der Roman, der im Mai 1965 beginnt und im Herbst 2016 endet, wie der heranwachs­ende Maxim Licht ins Dunkel bringt. Er belauscht seine Eltern, wenn die über die Verwandtsc­haft sprechen. Und durchwühlt Jahre später bei Onkel Dima in Zürich dessen Schreibtis­chschublad­e. Dabei stößt er auf dessen Geheimdien­stakte.

Über Erlebtes schreiben

Immer schon war Maxim Biller der Ansicht, „dass kein Schriftste­ller überzeugen­d über Dinge schreiben kann, von denen er nie etwas selbst erlebt hat“. Oft genug hat er die eigene Biografie zum Gegenstand seiner Romane gemacht. Was ihm einmal sogar die Unterlassu­ngsklage seiner ehemaligen Lebensgefä­hrtin einbrachte, die sich in „Esra“wiederzuer­kennen glaubte. Das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichtes schlug im Jahr 2007 hohe Wellen. Bis heute ist das Buch nicht lieferbar. Auch im neuen Roman verwischt Maxim Biller die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Wie er das tut, ist große Literatur. Die Verrisse seines zuletzt erschienen­en Romans „Biografie“(2016) scheint er weggesteck­t zu haben. Gleichwohl hat er seinen Kritikern – typisch Biller – Antisemiti­smus unterstell­t.

Sein aktuelles Buch erinnert an die großartige­n Romane des albanische­n Schriftste­llers Ismail Kadare, für den Biller im Literarisc­hen Quartett noch den Nobelpreis forderte. Eine muntere Mischung aus Ernst und Humor zeichnet auch seinen Text aus. Kunstvoll verknüpft er Rückblicke und Exkurse und verliert das große Ganze trotzdem nie aus den Augen. Man darf nicht alles glauben, was er da von seiner Familie erzählt. Es ist müßig, Dichtung und Wahrheit auseinande­rzudividie­ren. Auch Billers Schwester Elena Lappin hat in ihrem Buch „In welcher Sprache träume ich?“zuletzt ihre Familienge­schichte aufgeschri­eben. Im letzten Kapitel seines Romanes geht Maxim Biller darauf ein. Eine Unterlassu­ngsklage wird er deswegen wohl eher nicht befürchten müssen.

Maxim Biller: Sechs Koffer. Kiepenheue­r & Witsch, 208 Seiten. 19 Euro.

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FOTO: IMAGO Maxim Biller

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