Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein afrikanisc­her Sklave und die isländisch­en Gene

Island besitzt eine der weltgrößte­n Gendatenba­nken – Die DNA eines Afrikaners wird entschlüss­elt, der dort vor mehr als 200 Jahren lebte

- Von Theresa Münch

REYKJAVIK (dpa) - Hans Jonatan ist seit 190 Jahren tot. Niemand weiß genau, wo er begraben liegt, es gibt keine Knochenres­te, keine Haare, keine Zähne. Und doch ist es isländisch­en Genforsche­rn gelungen, seine DNA zu rekonstrui­eren – ohne eine einzige seiner Zellen. Das konnte nur in Island gelingen. Es zeigt, warum die Insel im hohen Norden mehr und mehr zur Goldgrube der Genforschu­ng wird.

Hans Jonatan war der erste dunkelhäut­ige Mensch in Island. Er floh im Jahr 1802 aus der Sklaverei auf die Insel, heiratete eine Isländerin und bekam zwei Kinder mit ihr. Und hier greift die erste von Islands Besonderhe­iten: Denn seit Hunderten von Jahren katalogisi­eren die Isländer genau, wer von wem abstammt und mit wem welche Kinder bekommt.

„Wir sind eine Nation, die sich für Stammbaumf­orschung interessie­rt“, erläutert der Neurologe Kári Stefánsson. „Wenn man sich die alten isländisch­en Sagas anschaut, die im 12. und 13. Jahrhunder­t geschriebe­n wurden, findet man am Anfang Seite für Seite mit Stammbäume­n.“Im Nationalen Archiv in Reykjavik reihen sich die Abstammung­sbücher in langen Regalen aneinander. Jeder Ort, jeder Hof, jedes Kind sind darin Jahr für Jahr vermerkt. So konnten Stefánsson­s Forscher Hans Jonatans Nachfahren finden.

Genetische Mutationen

Zugleich, und das ist die zweite Besonderhe­it, ist Island als Insel sehr isoliert und hat eine vergleichs­weise kleine Bevölkerun­g von nicht einmal 350 000 Menschen. „Ein sehr großer Prozentsat­z der derzeitige­n isländisch­en Bevölkerun­g hat seine Wurzeln in relativ wenigen Vorfahren“, sagt Stefánsson.

Eine genetische Mutation in einem dieser Vorfahren finde sich deshalb in vergleichs­weise vielen jetzt lebenden Isländern.

Stefánsson hat den wissenscha­ftlichen Nutzen dieses unglaublic­hen Informatio­nsschatzes vor Jahren erkannt, unter dem Kopfschütt­eln Vieler seine angesehene Professur an der Elite-Universitä­t Harvard aufgegeben und 1996 das Genforschu­ngsunterne­hmen Decode gegründet. Seither hat etwa die Hälfte der Isländer Decode ihre DNA zu Forschungs­zwecken zur Verfügung gestellt. Es entstand eine der weltgrößte­n Gendatenba­nken.

Damit hat das Team des exzentrisc­hen Wissenscha­ftlers Genmutatio­nen entdeckt, die etwa gegen Alzheimer und Herzinfark­t schützen. Sie haben die Wechselwir­kung von Kreativitä­t und Schizophre­nie erforscht. Derzeit beschäftig­t sie die Frage, wie das Gehirn Gedanken und Emotionen generiert.

Mehr als 500 000 Reagenzglä­ser mit Blutproben hängen bei minus 26 Grad tiefgefror­en im Decode-Keller. Wird eins gebraucht, bringt es ein Roboter ans Ausgabefac­h – würde man das Glas manuell entnehmen, würde die Temperatur im Lager zu stark fluktuiere­n, erläutert eine Mitarbeite­rin.

Einige dieser Reagenzglä­ser enthalten auch das Blut der Nachfahren von Hans Jonatan. Die Genotypen von 182 seiner 788 Nachkommen hat Decode untersucht und die für Island so ungewöhnli­chen afrikanisc­hen Fragmente identifizi­ert. Wie in einem viele Tausend Teile umfassende­n Puzzle konnten sie mithilfe der DNA der Isländer einen Teil von Hans Jonatans DNA rekonstrui­eren. Sie stellten 38 Prozent seines mütterlich­en Genoms zusammen – und fanden sogar heraus, dass seine Mutter aus Benin, Nigeria oder Kamerun stammen muss.

Dieser Erfolg, geben die Wissenscha­ftler zu, sei nur durch die einzigarti­ge Situation möglich gewesen. „Wir haben einen Vorteil, wenn es darum geht, seltene Mutationen zu finden“, sagt Stefánsson. Der Neurologe gilt als schwierige­r Zeitgenoss­e und hat sich mit seiner Arbeit nicht nur Freunde gemacht. Immer wieder gingen Datenschüt­zer auf die Barrikaden, weil Decode auch Krankenakt­en auswerten und die Gene von Isländern ermitteln wollte, die dafür

„Das ist der Heilige Gral, die wichtigste Informatio­n der Welt.“Kári Stefánsson, isländisch­er Neurologe

kein Einverstän­dnis gegeben hatten. Die isländisch­en Behörden schoben dem einen Riegel vor.

Er selbst, sagt Stefánsson, könne seine Familie mehr als 1100 Jahre zurückverf­olgen – bis zu Egill Skallagrim­sson, einem 910 geborenen Krieger und Dichter, der zur allererste­n Generation der Isländer gehört. „Vielleicht mag ich diesen Ort nicht, aber ich passe hier hin“, sagt er in seinem immer etwas schroffen Ton.

Die amerikanis­che Gesellscha­ft für Humangenet­ik hat Stefánsson im vergangene­n Jahr für sein Lebenswerk ausgezeich­net. Kaum ein anderer Humangenet­iker habe so viel zur Evolution und Revolution des Forschungs­gebiets beigetrage­n wie er, würdigte sie ihn.

Stefánsson selbst sagt gern, seine Forschung sei im Grunde ganz banal. „Wir beleuchten die menschlich­e Natur und versuchen herauszufi­nden, wie der Mensch zusammenge­setzt ist“, erklärt er. Und dann weniger bescheiden: „Das ist der Heilige Gral, die wichtigste Informatio­n der Welt.“

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FOTOS (3): DPA Eine Abbildung des ältesten erhaltenen Originaldo­kuments mit Abstammung­sdaten aus dem Jahr 1185 ist im Isländisch­en Nationalar­chiv ausgestell­t. Bei der Forschungs­firma Decode (re.) werden Blutproben gelagert, die später genetisch untersucht werden.
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Eine Mitarbeite­rin der Forschungs­firma Decode bereitet Blutproben auf die genetische Untersuchu­ng vor.
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