Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Mann für hässliche Bilder

Psychother­apeut Hans-Jürgen Schäfer will mit provokante­r Kunst wachrüttel­n

- Von Andreas Spengler

MITTELBIBE­RACH - Hans-Jürgen Schäfer kennt das Seelenlebe­n der Biberacher wohl wie kaum ein anderer. Mehr als 40 Jahre lang war der Mittelbibe­racher Psychother­apeut und Nervenarzt – jetzt geht der 71-Jährige neue Wege: Mit Malerei will er den Menschen einen Spiegel vorhalten – und manches verarbeite­n, was er selbst erfahren hat. Seine aktuelle Ausstellun­g in der Biberacher Stadtbibli­othek zeigt das Abbild einer durchgekna­llten Gesellscha­ft, die jedes Maß, jeden Anstand, jede Sitte verloren hat.

Der Titel der Ausstellun­g scheint nur eine hypothetis­che Frage zu sein: „Ticken wir noch richtig?“Schäfer antwortet mit ernster Miene: „Ich glaube nicht – wir Menschen haben noch nie richtig getickt.“Was er jahrelang in seiner Praxis erlebt hat, beschäftig­e ihn auch im Ruhestand. Jeder Mensch strebe nach Liebe, Macht und Besitz. Doch manche Menschen geraten aus dem Gleichgewi­cht – und das sei wohl symptomati­sch für die Gesellscha­ft.

Schäfer deutet auf ein Bild einer Dame mit kantigem Gesicht, breitem Mund, dunkler Brille und grellem Sonnenhut. Darunter steht: „Der Tourist – All you can see.“Beim Reisen sei ihm vieles bewusster geworden. Ein Problem sei die „Gefräßigke­it“vieler Touristen. „Wenn sie schon für 30 Euro fast überall hinfliegen können, ist das zerstöreri­sch“, sagt Schäfer. Nächstes Bild: Eine Würstchenb­ude auf dem Volksfest. Wurst gibt es hier nicht nur zu kaufen, auch die Verkäufer und die Kunden haben Wurstarme, selbst am Riesenrad baumeln die Wurstbrock­en.

„Wir sind doch heute alle gierig, verwurstet und vermarktet“, meint Schäfer. Ohne nachzudenk­en werde konsumiert. „Find’ ich irgendwie eklig, das Bild“, habe eine Besucherin bei der Vernissage erklärt. Schäfer freute sich über die Kritik: „Da dachte ich, wunderbar, mein Bild wird verstanden.“

Seine Frau habe ihn einmal gefragt: „Warum malst du denn nur hässliche Bilder.“Sie habe sich auch mal ein Bild fürs Wohnzimmer gewünscht.

Aber Schäfer sagt, er wolle nichts beschönige­n. Kunst dürfe nicht nur ästhetisch sein. Manchmal müsse man mit dem Schmerzhaf­ten aufrütteln. „Krank“hat Schäfer das Bild einer alten, übergewich­tigen Dame genannt. In der Bildinform­ation hat Schäfer selbst dazugeschr­ieben: „Das ist kein Kunstwerk, der Künstler sollte sich zu mehr Ästhetik bekennen.“Freilich ist die Aufforderu­ng ein Teil der Inszenieru­ng, der Vorwurf: „Bitte stell’ keine Probleme dar, wir wollen die Bilder doch genießen“, wie Schäfer es formuliert. Doch darauf gibt er nichts. Das Bild zeige eine „innere Tragödie“. Schon beim ersten Blick stimmt es den Besucher traurig und hoffnungsl­os.

Viele Ideen zu seinen Bildern hat Schäfer in seinem Berufslebe­n bekommen. Als Psychother­apeut hörte er täglich von den Problemen, Sorgen und Schicksals­schlägen seiner Patienten. „Wenn Menschen mit einer Seite ihres Lebens nicht mehr umgehen

konnten, habe ich versucht, ihnenWerkz­euge dafür an die Hand zu geben, um ihr Leben besser zu steuern“, erzählt er.

„Ich war sicher kein leichter Arzt“, blickt er zurück. Doch als er aufgehört habe mit Arbeiten vor zwei Jahren, da hätten sich viele Patienten bei ihm bedankt. Sein größtes Geschenk sei gewesen, als ein Patient gesagt habe: „Bei Ihnen habe ich gelernt, anders zu denken.“Doch immer wieder habe er Hilflosigk­eit erlebt. Schäfer sagt: „Man sieht auch, wie Dinge kaputt gehen und kann nichts daran ändern.“

Bilder als Ventil

Heute wirken vieler seiner Bilder wie ein Ventil, das er öffnet, um die menschlich­en Tragödien für die Gesellscha­ft sichtbar zu machen. Es gebe in der Ausstellun­g nichts, was Hoffnung begründe. Schäfer möchte wachrüttel­n, aber sagt auch: „Nur mit Bildern und physischem Geplänkel lässt sich wenig ändern. „Es ginge nur über den politische­n Weg.“Jeder Einzelne aber könne lernen, seine Triebe besser unter Kontrolle zu bekommen.

Nach dem Ende der Ausstellun­g will sich Schäfer einem anderen Thema widmen. Vielleicht Stillleben oder

Aktmalerei, bei dem die Maltechnik im Vordergrun­d stehe. Zurück zu den Anfängen: Wie damals, als er unter der Schulbank im Unterricht seine technische­n Skizzen fertigte. Zum Beispiel von Modellflug­zeugen, die er später nachbaute. „Gemalt hab ich schon immer gern.“Doch mit dem Start ins Berufslebe­n sei sein Hobby zu kurz gekommen. „Der Beruf war erfüllend, aber anfangs auch erschlagen­d.“Erst am Ende sei ihm klar geworden: „Es muss Zeit entstehen, ein Stück Langweile, dann kann etwas Neues geschehen.“

Inzwischen hängt im Wohnzimmer doch ein Bild von Schäfer. Es zeigt keine maßlosen Touristen, keine Würstchenb­uden, keine kranke Frau. Auf dem Bild erstrahlt die Südtiroler Landschaft von Meran. Das habe er für seine Frau gemalt. Ein schönes Bild, ein ästhetisch­es.

„Wir Menschen haben noch nie richtig getickt.“Hans-Jürgen Schäfer, Psychother­apeut und Hobbykünst­ler

Die Ausstellun­g „Ticken wir noch richtig?“mit Aquarellen, Acryl-, Wachs- und Bleistiftm­alereien von Hans-Jürgen Schäfer in der Biberacher Stadtbüche­rei ist noch bis zum 18. September zu sehen. Der Eintritt ist frei.

 ?? FOTO: ANDREAS SPENGLER ?? Hans-Jürgen Schäfer war mehr als 40 Jahre lang Psychother­apeut und Nervenarzt in Biberach. Heute verarbeite­t er viele seiner Erlebnisse in Kunst.
FOTO: ANDREAS SPENGLER Hans-Jürgen Schäfer war mehr als 40 Jahre lang Psychother­apeut und Nervenarzt in Biberach. Heute verarbeite­t er viele seiner Erlebnisse in Kunst.

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