Schwäbische Zeitung (Biberach)

Wer sieht mich an?

- Von Michael Pfeiffer

Unterschie­dliches kann diese Frage auslösen. Es gibt achtsam-freundlich­e Aufmerksam­keit und liebevolle Blicke, aber genauso auch die kritisch-kontrollie­rende oder die verachtend-feindliche Sicht. – Sehr spannend kann es auch sein, wie ich mich selbst anschaue.

„Ansehen“hat eine vielschich­tige Bedeutung. Wer es genießen darf, hat einen Sonnenplat­z. Wer nicht gesehen wird, dem macht das Leben Mühe.

Eine biblische Geschichte erzählt davon: Ein seit Geburt gelähmter Bettler sitzt vor der Tür des Gotteshaus­es auf dem Boden. Er ist unten, hält die Hand auf. Plötzlich wird er angesproch­en. Zwei Männer nehmen sich Zeit für ihn. „Sieh uns an!“, sagen sie zu ihm. Beziehung wollen sie mit ihm. Sicherlich erstaunt, schaut der Bettler auf und streckt ihnen seine offene Hand bittend entgegen. Doch er bekommt kein Geld. Das haben die Männer selbst nicht. Sie schenken ihm kein Almosen,0 sondern achtsame Würdigung und Zuwendung auf Augenhöhe. Sie teilen mit ihm ihr Vertrauen, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Doch ein von Geburt an Gelähmter, der täglich zum Betteln an die Tür des Gotteshaus­es getragen wird, ist und bleibt ein armer Tropf, dem man mitleidig mal was gibt. So ist das.

Doch diese Normalität haben die Männer schon damit durchbroch­en, dass sie ihn anschauen. Und sie sehen da mehr als den armen Tropf, der ganz unten ist und froh sein kein, wenn man ihm mitleidig was in die Bettelscha­le legt. Sie haben einen Menschen vor Augen, der wie jede und jeder andere auch Ebenbild Gottes ist. Sie entdecken in diesem bettelnden Krüppel zugleich Gottes geliebtes Kind, das Gott freundlich-liebevoll ansieht. Diese Sichtweise ändert alles.

Meine alte Nachbarin ist Gottes geliebte Tochter. – Doch wie merkt sie das? – Die biblische Geschichte sagt mir: Wenn sie beachtet und freundlich angesproch­en wird, kann sie es ahnen. Auch der Ziehharmon­ikaspieler am Marktplatz ist Gottes geliebter Sohn. Eventuell spürt er es, wenn ich ihm nicht nur Geld gebe, sondern mich für seine Musik bedanke, ihn sehe. Der Flüchtling … ja auch er Gottes geliebtes Kind. – Damit haben manche Probleme. – Doch die werden in der Regel kleiner, wenn wir uns ansehen, uns kennenlern­en, zusammen kochen …

Die biblische Geschichte (Apostelges­chichte 3) berichtet dann noch von einem Wunder, durch das der bettelnde Krüppel zu einem angesehene­n Menschen wird. Für mich ist aber auch ein Wunder, dass die beiden Männer den Bettler nicht übersehen und links liegen lassen. Es interessie­rt mich sehr, wie es dazu gekommen ist.

Nur eins weiß ich von den zweien: Sie wollten Beten gehen. Sie haben also eine Beziehung zu Gott und vertrauen darauf, von Gott freundlich und gnädig angeschaut zu werden. Bei Jesus haben sie das gelernt, dem sie folgen. Durch ihn spüren sie den aufmerksam-freundlich­en Blick Gottes. Ob wir den auch bemerken? Dadurch würden wir anders in die Welt schauen.

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FOTO: PRIVAT Michael Pfeiffer, evangelisc­her Schuldekan in Biberach

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