Schwäbische Zeitung (Biberach)
Kein Deutsch und dann in drei Jahren Abi
Der Syrer Joseph Baladi erhält wegen herausragender Leistungen einen Sonderpreis
WANGEN - Unter lang anhaltendem Applaus hat der 21-jährige Syrer Joseph Baladi unlängst sein Abiturzeugnis erhalten. Seine Geschichte beginnt im vom Bürgerkrieg zerstörten Aleppo und fand jetzt mit einem Sonderpreis des Wangener RupertNeß-Gymnasiums ihr vorläufiges Ende. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der sich seine Integration erst ohne Deutschkenntnisse und dann mit unbändigem Fleiß innerhalb von drei Jahren hart erarbeitet hat.
Joseph Baladi ist ein zurückhaltender, freundlicher, ausgesprochen höflicher Mensch. Wenn er im Gespräch unsicher ist, korrigiert er sich, fragt sicherheitshalber zweimal nach – auch, ob er danach sein Wasserglas in die Küche zurückbringen soll. Wenn er erzählt, bleibt seine Stimme ernst und ruhig, die Sätze in druckreifem Deutsch wirken gut bedacht. Ein Lächeln huscht dem hageren, jungen Mann nur selten über das Gesicht. Verständlich: Die schrecklichen Dinge, die er gesehen und erlebt haben muss, kennt man nur aus den Medien, sie sind Tausende Kilometer weit weg. Die syrische Millionenstadt Aleppo wird seit Jahren vom Bürgerkrieg erschüttert. Mitten im Kampfgebiet lebt der 17-jährige Joseph Baladi mit seinen Eltern und der jüngeren Schwester. Es fallen Bomben, die Zivilbevölkerung leidet, monatelang gibt es weder Wasser noch Strom, die Angst ist ein täglicher Begleiter. „Wenn man das Haus verließ, wusste man nicht, ob man lebend wieder heimkommt“, erinnert sich der 21Jährige. „Irgendwann kann man das nicht mehr aushalten, auch nicht mehr akzeptieren.“
Die Flucht in ein neues Leben ermöglicht Rouayda Alharithi. Baladis Tante lebt bereits seit gut 20 Jahren in Deutschland. Über den Familiennachzug kann die vierköpfige Familie ausreisen, kommt im Januar 2015 nach Wangen und bei der Verwandtschaft unter. Für den Syrer ist das neue Umfeld in gewisser Weise ein Kulturschock – von der syrischen Millionenstadt in die Allgäuer Provinz. „Auf dem Land zu leben, habe ich mir eigentlich nicht vorstellen können“, sagt der junge Mann und lächelt zart. „Aber ich habe mich damit angefreundet und fühle mich wohl hier.“Das hat auch mit den ersten, positiven Eindrücken von Wangen zu tun: „Die Leute hier sind wirklich nett, hilfsbereit, haben uns unterstützt – bis heute.“
So auch beim ersten Kontakt mit seiner künftigen Schule. Der Syrer, spricht beim damaligen Leiter des Wangener Gymnasiums, Lothar Eibofner, vor. Der entscheidet, den damals fast 18-Jährigen fürs zweite Schulhalbjahr der zehnten Klasse aufzunehmen. Es beginnt ein Prozess, den Eibofners Nachfolger Michael Roth gut drei Jahre später beim abschließenden Abiball als „schier unmöglich“bezeichnen wird.
Baladi, der anfangs kein Wort Deutsch spricht, vertieft sich in die Bücher, übt mit Klassenkameraden, nimmt Nachhilfe bei Stephanie Stadlmeier, einer Lehrerin der Wangener Gemeinschaftsschule. Silvia Fritsch, seine spätere Deutschlehrerin am Gymnasium, kann sich noch genau erinnern, wie sie den Syrer anfangs im Fach Erdkunde bekam. „Er saß hinten drin, blätterte ständig in seinem Arabisch-Deutsch-Wörterbuch“, berichtet Fritsch. „Er hat so viele Begriffe nicht verstanden und konnte sich bei Fragen oder Antworten nicht richtig ausdrücken.“Am Ende des Schuljahrs habe sich Baladi – wenn auch schweren Herzens – überreden lassen, die erste Jahrgangsstufe zu wiederholen. Sein Ehrgeiz ist jedoch ungebrochen. „Ich habe gefragt, gefragt, gefragt und habe Antworten bekommen“, erzählt Baladi. „Und meine Ohren, also mein Gehirn, haben sich an die Geschwindigkeit gewöhnt.“Er konzentriert sich fortan auf die „wichtigen Sachen“, verfolgt die Situation in seinem Heimatland aber weiter, bleibt in Kontakt mit Bekannten und Freunden. „Man kann das, was war, nicht ausblenden. Aber man lernt, mit diesen Gedanken umzugehen.“
„Sprachlos, überglücklich“
In Englisch, Französisch und den Naturwissenschaften tut er sich vergleichsweise leicht, mancher Stoff ist ihm aus seiner Schulzeit in Syrien bekannt. Die Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und vor allem Deutsch werden jedoch zu einer echten Herausforderung. Es gilt Essays zu schreiben, Kurzgeschichten zu interpretieren, Dramen voller Anspielungen und Metaphern oder die Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart zu verstehen. „Das ist dann nicht mehr nur normales, das ist literarisches Deutsch, das man können muss“, sagt Silvia Fritsch. Und: „Man muss ja auch sehen, in welcher Situation sich Joseph befand, das neue Umfeld, was er erlebt hat, die psychische Belastung. Deshalb ist das, was er geschafft hat, eine Leistung sondergleichen.“
Mit Willenskraft, Beharrlichkeit und Fleiß bewältigt Joseph Baladi schließlich auch die Abiturprüfungen in Englisch, Französisch, Deutsch und Mathematik. Und fällt bei der Zeugnisübergabe auf dem abschließenden Abiball fast aus allen Wolken. Für seine herausragenden Leistungen bekommt der junge Syrer den Sonderpreis des Rupert-NeßGymnasiums verliehen. Der gesamte Festsaal steht auf und applaudiert. „Ich war sprachlos, überglücklich“, sagt Baladi. Und, zufrieden mit seinem Notenschnitt von 2,7: „Ich bin wirklich stolz, dass ich das geschafft habe, aber auch dankbar, für die Unterstützung von Lehrern, Schule und Mitschülern.“
Für die Zukunft hat der Syrer klare Vorstellungen. „Ich möchte Sprachen auf Lehramt studieren, am liebsten an der Uni Freiburg“, sagt der 21-Jährige. Die Geschichte des jungen Mannes, der sich seine Integration erarbeitet, geht also weiter. Es ist jetzt, wenn man so will, die Geschichte eines deutschen Syrers.