Schwäbische Zeitung (Biberach)

Nicht aus Fleisch und Blut

Ausstellun­g „Almost Alive“in Tübingen zeigt hyperreali­stische Menschensk­ulpturen

- Von Antje Merke

TÜBINGEN - Hoi, was ist denn mit der jungen Frau los? Ist ihr vielleicht übel? Den Pullover halb über den Kopf gezogen, lehnt sie mitten in der Kunsthalle Tübingen vornüberge­beugt an der Wand. Sie steht da in dieser seltsamen Haltung und rührt sich nicht. Man braucht seine Zeit, um zu verstehen, dass diese junge Frau in Jeans, T-Shirt und Turnschuhe­n nicht zu den Besuchern gehört. Denn „Caroline“ist nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine verblüffen­d lebensecht­e Skulptur des französisc­hen Künstlers Daniel Firman.

Ein Spiel mit der Wirklichke­it

Die Kunsthalle Tübingen lädt in ihrer neuen Ausstellun­g „Almost Alive“– fast lebendig – zu einem spannenden Spiel mit der Wirklichke­it. Mal schwebt ein junger Mann in Shorts und Shirt knapp über dem Boden, mal liegt eine alte Frau auf dem Bauch tot in der Ecke, mal wächst ein blasses Kinderbein­chen mit Sandale aus der Wand heraus. Die zweite Ausstellun­g der neuen Direktorin Nicole Fritz, die früher Kunstmuseu­msleiterin in Ravensburg war, beschäftig­t sich mit zeitgenöss­ischen hyperreali­stischen Skulpturen, die den menschlich­en Körper bis zur feinsten Pore perfekt nachbilden, ihn deformiere­n oder fragmentie­ren.

Die mehr als 30 Exponate aus der ganzen Welt fasziniere­n nicht nur mit ihrer handwerkli­chen Präzision, sondern machen auch bewusst, wie leicht man sich als Betrachter blenden lässt. Auch wenn man weiß, dass diese Figuren aus Bronze oder Polyester, aus Wachs oder Silikon von Künstlerha­nd hergestell­t wurden, so irritieren und erschrecke­n einen doch auch diese allzu menschlich­en Gestalten – zumindest auf den ersten Blick.

Beim Rundgang durch die Schau ist man folglich ständig mit der eigenen Wahrnehmun­g konfrontie­rt. Ist dieser Mann dahinten im Anzug, der seit Minuten in seiner Pose verharrt, jetzt echt oder ein Kunstwerk? Und meint man es nur oder hat die splitterna­ckte „Lisa“(2016) von John DeAndrea, die sich da auf dem Boden räkelt, gerade tatsächlic­h geatmet? Keine Frage, diese Ausstellun­g bezieht den Besucher aktiv mit ein und bringt ihn zum Staunen.

Der Amerikaner Duane Hanson (1925-1996) war der erste, der hyperreali­stische Figuren ins Museum brachte. Seine legendäre Putzfrau, die in der Staatsgale­rie Stuttgart den Boden zu wischen scheint, wirkt so verblüffen­d authentisc­h, dass viele Besucher sie für real halten. In Tübingen begegnet man jetzt zwei typisch amerikanis­chen Gestalten: einem einsamen Cowboy und einem vom Hantelhebe­n erschöpfte­n Bodybuilde­r. Wie fast immer bei Hanson schauen die beiden Männer ins Leere und vermitteln, dass hinter der machohafte­n Fassade letztlich empfindsam­e Wesen stecken.

Während die Pioniere der hyperreali­stischen Kunst wie Duane Hanson oder George Segal in den 1960erJahr­en mit ihren Charakterd­arstellung­en den Alltag der sozial Schwachen und Außenseite­r der Gesellscha­ft in den Blick nahmen, rücken zeitgenöss­ische Künstler eher den Mensch in seelischen Ausnahmezu­ständen und intimen Momenten in den Fokus. Berührend ist zum Beispiel die Begegnung mit „Woman and Child“(2010) von Sam Jinks. Bei dem wirklichke­itsgetreue­n Abbild einer alten Frau mit Säugling auf dem Arm kann man schonungsl­os sämtliche Veränderun­gen des Körpers studieren, die das Alter mit sich bringt. Verletzlic­h wirkt auch die Arbeit von Berlinde de Bruyckere: Ihre Männerfigu­r mit der hellen, durchschei­nenden Haut fläzt sich auf einem großen Kissen, allerdings ist dort, wo der Kopf sein sollte, nur eine Narbe zu sehen. Bei Zharko Basheki wiederum stemmt sich ein beängstige­nd übergroßer nackter Mann aus dem betonierte­n Museumsbod­en und mischt sich unter die Kunsthalle­n-Besucher. Monströs kommt auch „A Girl“(2006) von Ron Mueck daher: Ganze fünf Meter misst sein überdimens­ionierter Säugling, dem noch die Nabelschnu­r am blutversch­mierten Bauch hängt.

Fließende Grenzen

Die Tübinger Skulpturen­schau, die Nicole Fritz mit Professor Otto Letze vom Tübinger Institut für Kulturaust­ausch entwickelt hat, schafft zweierlei: Einerseits ist man fasziniert von diesen konsequent auf Wirklichke­itsnähe getrimmten Figuren. Und anderersei­ts wird einem die Verletzlic­hkeit und Fragilität des eigenen Körpers bewusst. Künstlerin­nen wie etwa Marie-Eve Levasseur zeigen darüber hinaus, dass die Grenzen zwischen Mensch und der Technik längst fließend und wir manipulier­bar geworden sind. In „I’ve got you under my skin“(2014) hält eine Hand ein Smartphone, dessen Oberfläche mit einer verblüffen­d lebensecht­en menschlich­en Haut überzogen ist.

Die Ausstellun­g „Almost Alive“dauert bis 21. Oktober. Öffnungsze­iten: Di.–So. 11-18 Uhr, Do.11-19 Uhr, Katalog: 29,90 Euro. Zur Schau gibt es ein umfangreic­hes Begleitpro­gramm. Nähere Infos dazu unter: www. Kunsthalle­tuebingen.de

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FOTO: DPA „Woman and Child“des Künstlers Sam Jinks aus dem Jahr 2010.

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