Schwäbische Zeitung (Biberach)

Vermisst auf hoher See

Wenn Passagiere bei Kreuzfahrt­en verschwind­en – Kritik an Reedereien – Britin überlebt zehn Stunden in der Adria

- Von Fabian Wegener

HAMBURG/MIAMI (dpa) - Wasserruts­chen an Bord, überborden­de Buffets und fulminante Unterhaltu­ngsprogram­me: Moderne Kreuzfahrt­schiffe werben mit einem Luxus, der oft Sterne-Hotels in den Schatten stellt. Die Industrie boomt seit Jahren, beflügelt von Urlaubern, die sich neben exotischen HafenStopp­s auf bis zu 16 Decks Entspannun­g und Entertainm­ent erhoffen. Doch manchmal entpuppt sich die Urlaubsidy­lle als Alptraum.

So wie jetzt im Fall einer britischen Touristin, die am Samstagabe­nd in der kroatische­n Adria von einem Kreuzfahrt­schiff stürzte und erst nach zehn Stunden aus dem Meer gerettet wurde. Hier ging die Sache glücklich aus. Doch manche Passagiere bleiben verschwund­en – nicht nur durch Unfälle. Der Strafrecht­ler und TV-Anwalt Alexander Stevens geht sogar so weit, das Kreuzfahrt­geschäft als „ein Eldorado für Mordgetrie­bene“zu beschreibe­n.

„Tatsächlic­h verschwind­en im Schnitt jedes Jahr über 20 Menschen von Bord eines Kreuzfahrt­schiffes“, erläutert Ross Klein, Professor für Maritime Studien von der kanadische­n Universitä­t Neufundlan­d auf Anfrage. Insgesamt 315 solcher Fälle hat der Kreuzfahrt-Experte seit dem Jahr 2000 dokumentie­rt.

Ein Teil der Vermissten­fälle sei auf Suizide zurückzufü­hren, erklärt der Experte, andere Fälle seien das Resultat unglücklic­her Unfälle, oft als Folge von Alkoholmis­sbrauch. „Besorgnise­rregend ist jedoch, dass es in rund 30 Prozent aller Fälle keinen Anhaltspun­kt gibt, was mit den Passagiere­n geschehen sein könnte“, sagt Klein.

Für die Hinterblie­benen folgen in der Regel Jahre der quälenden Ungewisshe­it. Ein Mann, der dies am eigenen Leib erleben musste, ist der Amerikaner Kendall Carver. Seine erwachsene Tochter Merrian verschwand 2004 von Bord eines Kreuzfahrt­schiffes. „Als Angehörige­r habe ich sehr gelitten. Nicht nur, weil ich einen geliebten Menschen verloren habe, sondern vor allem, weil die Reederei mit allen Mitteln versucht hat, den Vorfall zu vertuschen“, erzählt er sichtlich bewegt per Videoanruf.

Die Tragödie beginnt am 1. September 2004, als Carvers Tochter plötzlich für mehrere Tage nicht zu erreichen ist. Carver findet heraus, dass sie Tickets für ein amerikanis­ches Kreuzfahrt­schiff gekauft hatte. Er ruft die Reederei an, die ihm nach drei Tagen bestätigt, dass Merrian zwar an Bord gewesen sei, aber nach der zweiten Nacht ihre Kabine nicht mehr benutzt habe.

„Hier begann für uns die Odyssee“, sagt der alte Mann, tiefe Trauer in der Stimme. Nach Carvers Darstellun­g verweigert die Reederei seiner Familie die Kooperatio­n und behauptet, Videoaufna­hmen seien längst überspielt worden. „Sie haben alles Mögliche getan, die Ermittlung­en zu behindern“, sagt Carver. Er alarmiert das FBI, engagiert Privatdete­ktive und reicht am Ende Klage ein. „Ich wollte mich von dieser milliarden­schweren Maschineri­e nicht unterkrieg­en lassen“, sagt er.

Viereinhal­b Monate später entscheide­t ein Gericht, dass Carver mit dem Steward sprechen darf, der für die Kabine seiner Tochter zuständig war. Dieser sagt, dass er Merrian bereits nach zwei Tagen vermisst gemeldet habe. Sein Vorgesetzt­er habe ihn aber angewiesen, die Sache einfach „zu vergessen“. Später habe dieser ihre persönlich­en Gegenständ­e einfach entsorgt. „Jetzt wussten wir, dass wir es mit einer Vertuschun­gsaktion zu tun hatten“, sagt Kendall, seine Stimme bebend vor Wut.

Angst vor negativer Presse

„So schockiere­nd das klingen mag – es ist fast schon ein typisches Verhalten“, urteilt Ross Klein. Negative Presse sei schlichtwe­g schlecht für das Geschäft. „Kreuzfahrt­schiffe sind ein Wohlfühlpr­odukt. Deshalb würden Reedereien fast alles tun, um negative Berichters­tattung zu verhindern“, meint er.

Auf Anfragen zu dem Branchenth­ema reagieren nur wenige Reedereien. Eine davon ist der deutsche Kreuzfahrt-Riese Aida. „Die Sicherheit unserer Passagiere ist für uns die oberste Priorität“, sagt Martina Reuter, Pressespre­cherin von Aida Cruises, dem deutschen Zweig der britisch-amerikanis­chen CarnivalGr­uppe. Das Problem an Notfallsys­temen bei Mann über Bord sei, dass es dafür noch keine internatio­nalen Standards gebe. „Trotzdem arbeitet Carnival an einer technische­n Lösung“, sagt sie. Aida-Konkurrent Tui Cruises („Mein Schiff “) will sich nicht äußern und verweist auf den Verband der Kreuzfahrt­industrie Clia (Cruise Lines Internatio­nal Associatio­n). Dort heißt es, heutige Kreuzfahrt­schiffe seien die sichersten, die jemals unterwegs gewesen seien.

Der Fall der verschwund­enen Merrian bringt am Ende doch noch etwas Positives mit sich. Rund 14 Monate nach ihrem Verschwind­en gründet Kendall Carver die „Internatio­nal Cruise Victims“-Organisati­on, eine Vereinigun­g, die nach eigener Darstellun­g „Opfer der Kreuzfahrt­Industrie“vertritt. „Wir wollten eine Plattform schaffen, auf der sich Angehörige gegenseiti­g unterstütz­en und auch politisch etwas ins Rollen bringen können.“Dank seines Einsatzes verabschie­det der US-Kongress 2010 den „Cruise Vessel Security and Safety Act“. Dieser sieht unter anderem 250 000 US-Dollar Strafe für Reedereien vor, wenn das Verschwind­en eines Passagiers nicht innerhalb von vier Stunden gemeldet wird. Zudem schreibt er vor, dass Schiffe, die US-Häfen ansteuern, ein automatisc­hes Man-Overboard-System installier­t haben müssen. Grund zum Feiern ist das für die Hinterblie­benen jedoch nicht.

„Viele Reedereien haben das System auch bis heute nicht installier­t. So kann es Stunden dauern, bis das Verschwind­en eines Passagiers bemerkt wird“, sagt Jim Walker, einer der prominente­sten Anwälte für Seerecht aus Miami. Er behauptet: „Den Reedereien geht es nur ums Geld. Es ist günstiger, einen Vermissten­fall zum Selbstmord zu deklariere­n, als in teure Sicherheit­ssysteme zu investiere­n.“

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FOTO: DPA Kreuzfahrt­schiffen fehlt oft ein Notfallsys­tem bei Vermissten.

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