Schwäbische Zeitung (Biberach)

Von Szene zu Szene wandern

In der Kulisse der Gargeller Bergwelt erleben Zuschauer eindrückli­ches Theater

- Von Christiane Pötsch-Ritter www.gargellen.at, www.montafon.at

Der Sommermorg­en auf der Oberen Röbialpe hoch über Gargellen ist ein Idyll. Kaum kann man sich etwas Schöneres und Friedliche­res vorstellen, als hier von der Sonne geweckt zu werden. „Die herrliche Aussicht! Nie habe ich so hohe Berge gesehen“, sagt Maria, als sie durch die offene Stalltür auf die Gipfel des Montafons blickt. Leise fügt sie noch an: „Und so still hier. Keine Fahnen. Kein Gebrüll. Keine Uniformen.“Katharina ist hastig aufgestand­en von dem harten Boden. „Wenn wir nur da bleiben könnten. Riechst du noch die Heidelbeer­en?“, fragt sie. „Vielleicht werden wir heute auch noch welche finden.“

„Auf der Flucht“

Die Zuschauer des Teatro Caprile, die das Drama hier aus einer dunklen Ecke des Stalls verfolgen, wissen bereits, dass die jungen Lehrerinne­n es am Ende nicht schaffen werden, sich vor den Nazi-Schergen in die Schweiz zu retten. Beklommen sieht man zu, wie sie ihre Rucksäcke schultern, um zum Sarotlajoc­h hinaufzust­eigen. Allmählich verliert man sie aus den Augen. Irgendwo dort oben werden sie auf den Zöllner treffen, der sein Leben nicht riskieren will für das zweier dahergelau­fener Jüdinnen. Bald wird die Frau des Hilfsgenda­rms von St. Gallenkirc­h sie tot in der Zelle unterm Schulhaus finden. Erhängt mit den Rucksackri­emen am Fensterkre­uz. Man weiß es schon seit der ersten Szene unten im Hotel Madrisa. Da hatte die Frau es dem Zöllner erzählt, anklagend und ganz außer sich.

Die Theaterwan­derung „Auf der Flucht“ist als eine szenische Collage in mehreren Stationen angelegt, verteilt auf über 500 Höhenmeter­n. Sie lässt die Menschen wieder lebendig werden, die hier nach dem Anschluss Österreich­s an NaziDeutsc­hland über Gargellen in die Schweiz zu fliehen versuchten. Katharina Grabher und Andreas Kosek vom Teatro Caprile aus Wien haben ein eindrückli­ches Stück komponiert aus Zeitzeugen­berichten, welche die Montafoner Museen zusammenge­tragen haben, und Texten von Schriftste­llern, die selber Opfer des Nationalso­zialismus geworden sind, wie Franz Werfel und Jean Améry. Vor allem Jura Soyfer ist es gewidmet, dem jungen Dichter aus Wien, dem eine österreich­ische Grenzpatro­uille zum Verhängnis geworden war, als er auf Skiern über den Sarotlapas­s zu entkommen versuchte. Er hatte eine Sardinenbü­chse dabei, eingewicke­lt in Zeitungspa­pier, in eine eigentlich „legale“Gewerkscha­ftszeitung, die einem übereifrig­en Gendarmen aber verdächtig vorkam. Soyfer starb 1939 im KZ Buchenwald an Typhus. An ihn soll die in den „Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon“vom 19. März 1938 verpackte Sardinenbü­chse erinnern, die die Teilnehmer der Theaterwan­derung statt einer Eintrittsk­arte bekommen.

Begleitet werden die Wanderer auf der Fünfeinhal­b-Stunden-Tour von Friedrich Juen, der im Hauptberuf bei den Gargeller Bergbahnen für Lawinensch­utz und Pistensich­erheit zuständig ist, aber auch als Heimatfors­cher eine ausgewiese­ne Kapazität. Sein Großonkel Meinrad Juen gelangte einst als der Gewieftest­e unter den Gargeller Schmuggler­n zu einiger Berühmthei­t. Wie er auch als Fluchthelf­er die Zöllner geschickt zu täuschen wusste, erzählt der Neffe in unverfälsc­htem Muntafuner­isch, eine wundersame Spielart des Vorarlberg­er alemannisc­h-schwäbisch­en Dialekts. Auf Wunsch fasst er anschließe­nd auf Hochdeutsc­h zusammen. Oft lässt er das Publikum auf dem Weg zwischen den einzelnen Spielstati­onen schweigend seinen Gedanken nachhängen. Der Kontrast zwischen dem Gefühl der Freiheit in dieser überwältig­end schönen Hochgebirg­slandschaf­t und dem der Entwurzelu­ng und des Ausgeliefe­rtseins eines Flüchtende­n könnte kaum größer sein.

Auf der Ronggalpe findet man sich vor einem leeren Mistgevier­t wieder, darin gefangen wie ein Tier die Tänzerin Maria King, die sich quälende Minuten lang vergeblich an den glitschige­n, schmutzige­n Wänden abarbeitet. „Erniedrigu­ng macht niedrig. Der Gegenstand einer anhaltende­n Grausamkei­t rechtferti­gt am Ende diese. Darin liegt eine der härtesten Härten des Lebens“, hört man von hinten eine Frauenstim­me sprechen. Schließlic­h reicht eine Urlauberin aus Bremen der Verzweifel­nden in der Grube die helfende Hand. „Es gehört zur Dramaturgi­e, dass die Zuschauer sich in unterschie­dlichen Rollen wiederfind­en“, erklärt Katharina Grabher, „als Opfer, als Mittäter, auch als Personen, die sich gezwungen sehen, Entscheidu­ngen zu treffen“.

Interaktiv­es Spiel

Natürlich kann das nur gelingen mit Schauspiel­ern, die dieses Spiel mit den wechselnde­n Rollen und Perspektiv­en selbst virtuos beherrsche­n. Und dazu in der Lage sind, zwischen den Bühnen vor der Kulisse des Rätikons rasch mal 200 Höhenmeter vorzulaufe­n, bevor das Publikum zur nächsten Szene anrückt. Auf der Oberen Röbi hat Andreas Kosek als Gestapo-Mann die Zuschauer in schneidend­em, drohendem Ton in die Enge getrieben: „Haben hier zwei Frauen übernachte­t ... mosaischen Glaubens?“Auf dem Rückweg kurz vor der Ronggalpe begegnen sie ihm wieder – als jüdischem Intellektu­ellen, der Zeilen aus Dantes Vergil deklamiert und an einer Welt zu zerbrechen droht, für die er ein „Untermensc­h“ist. Roland Etlinger verkörpert die Zöllner, den ängstliche­n, beflissene­n, feigen und gnadenlose­n genauso überzeugen­d wie jenen, der die Verfolgten „in Erwägung der Menschlich­keit“am Ende ziehen lässt.

„Auf der Flucht“– Theaterwan­derung in Gargellen/Montafon. Termine: 24., 25., 26 und 31. August, 1. und 2. September 2018 Anmeldung unter Tel. +43/50/ 6686 310, www.teatro-caprile.at,

Die Recherche wurde unterstütz­t vom Montafon Tourismus.

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Die Jüdinnen wollen über die Obere Röbialp in die Schweiz fliehen.
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FOTOS: STEFAN KOTHNER Das Publikum wandert den Schauspiel­ern hinterher.

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