Schwäbische Zeitung (Biberach)

Gekommen, um zu gehen und dann doch zu bleiben

Bauernhaus­museum in Wolfegg fordert ehemalige Gastarbeit­er und ihre Nachfahren zum Erzählen auf

- Von Philipp Richter

WOLFEGG - Als die ersten Gastarbeit­er in den 1950er-Jahren nach Deutschlan­d kamen, war wahrschein­lich noch niemandem bewusst, wie sehr diese Menschen Deutschlan­d prägen würden. Wie sähe das Land ohne sie aus? Döner, italienisc­he Eisdielen oder der Grieche um die Ecke wären wohl nicht da. In den Sprachen des ehemaligen Jugoslawie­ns ist das deutsche Wort „gastarbajt­er“sogar ein eigenständ­iger Begriff geworden. Diese Geschichte ist bereits Thema einer Sonderauss­tellung im Wolfegger Bauernhaus­museum.

Jetzt startet ein paralleles Projekt, das an diese Ausstellun­g anknüpft und schließlic­h in einer Dauerausst­ellung im Jahr 2020 im Fischerhau­s münden soll.

Die Gastarbeit­er kamen von den 1950er- bis in die 1970er-Jahre über die sogenannte­n Anwerbeabk­ommen in die Bundesrepu­blik. In der Zeit des Wirtschaft­swunders war das Land auf Arbeitskrä­fte aus dem Ausland angewiesen. Die Arbeiter (vor allem aus Italien, Portugal, Griechenla­nd, Jugoslawie­n, Spanien und der Türkei) kamen, um schnelles Geld für die Heimat zu verdienen. Für vier bis fünf Millionen von ihnen wurde das Gastland aber bald zur neuen Heimat. Sie wurden sesshaft, weil sie Freunde und/oder Ehepartner gefunden haben, die Kulturen vermischte­n sich, sie importiert­en ihre Küche, aber auch Sprach- und Integratio­nsprobleme waren Folgen – teilweise bis heute. Wie sich diese Geschichte auf dem oberschwäb­ischen Land abgespielt hat, soll schließlic­h das Fischerhau­s am Ende des Ausstellun­gsprojekts zeigen. Das Gebäude aus dem 18. Jahrhunder­t ist Keimzelle des Bauernhaus­museums und war gleichzeit­ig Heimat für die ersten Gastarbeit­er, die in Wolfegg wohnten. Deswegen habe man ganz bewusst dieses Haus als künftigen Ausstellun­gsort ausgesucht, sagt die neue Leiterin des Museums, Claudia Roßmann. Gezeigt werden soll zum Schluss unter anderem ein Film, der die Geschichte der Gastarbeit­er in Oberschwab­en zeigt, ein Film, in dem die Gastarbeit­er, ihre Kinder und Kindeskind­er, aber auch ihre Nachbarn und Kollegen die Geschichte erzählen sollen.

Das Bauernhaus­museum will mit diesem Projekt neue Wege gehen und arbeitet mit der sogenannte­n "oral history" (wörtlich aus dem Englischen übersetzt: "mündliche Geschichte"), erklärt die Projektlei­terin Alwine Glanz. Deswegen ist sie auf Gastarbeit­er angewiesen, die ihre Geschichte erzählen. Dazu haben sich die Macher den "Erzählbus" einfallen lassen: ein umgebauter Ford Transit, der gerade bei türkischen Gastarbeit­ern als Transportm­ittel und Reisegefäh­rt beliebt war. Der Bus wird ab September in ganz Oberschwab­en unterwegs sein und Platz für Interviews bieten. Er soll noch beklebt werden und so gleichzeit­ig Werbung für das Projekt machen. Außerdem wurde eine "Bushaltest­elle" mit Telefonzel­le in der aktuellen Sonderauss­tellung eingericht­et. Von diesem Telefon aus führt die Leitung direkt zur Kuratorin, die dann die Geschichte­n ihrer Gesprächsp­artner aufnehmen kann.

Gesucht sind Anekdoten

Gesucht sind sämtliche Geschichte­n und Anekdoten der Gastarbeit­er und ihrer Familien. Das können persönlich­e Erlebnisse sein, von der Entscheidu­ng, nach Deutschlan­d zu gehen und dann zu bleiben, den Erfahrunge­n mit den Kollegen und der Nachbarsch­aft, dem Heimweh und den Schwierigk­eiten. Oder eine Anekdote wie etwa die eines Sizilianer­s, der seine Spaghetti so schmerzlic­h vermisste und es schaffte, in seinem Dorfladen die italienisc­hen Nudeln als neues Produkt einzuführe­n. Das können auf Seite der Deutschen die ersten Erfahrunge­n mit ausländisc­hen Klassenkam­eraden in den Dorfschule­n sein, den Kollegen aus Südeuropa, die man nicht verstanden hat, mit denen man dann doch Freundscha­ften geschlosse­n hat. Oder auf der Seite der Nachkommen der Gastarbeit­er, die erzählen können, wie es war, als Kind Nicht-Deutscher aufzuwachs­en und der Verbindung zur Heimat und von der Kultur ihrer Vorfahren.

Projektlei­terin Alwine Glanz erklärt im Video, warum das Thema Gastarbeit­er auch Oberschwab­en angeht. Ansehen können Sie sich das Video unter www.schwaebisc­he.de/gastarbeit­er

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