Schwäbische Zeitung (Biberach)
Reetdächer werden neu gedeckt
In Deutschland beherrscht niemand mehr dieses alte Handwerk – Arbeiter sind aus Polen
KÜRNBACH- Wie ein fast ausgestorbenes Handwerk ausgeübt wird, können Besucher derzeit im Museumsdorf in Kürnbach beobachten. Dort werden die Reetdächer zweier Häuser gereinigt und erneuert. Da es im süddeutschen Raum keinen einzigen Anbieter mehr gibt, der diese Technik beherrscht, sind nun Arbeiter aus Polen angereist.
Das Voggenhaus und das Haus Hueb direkt am Anfang des Museumsrundgangs müssen auf Vordermann gebracht werden. Nur drei Männer stemmen die Baustelle. Dachdeckermeister Jarosıaw Jakalski und zwei Zuarbeiter.
Einer davon ist Piotr Budniak. Er fungiert gleichzeitig als Dolmetscher für die deutschen Geschäftspartner. In der vergangenen Woche haben die Handwerker die Arbeiten am Haus Hueb aufgenommen.
Zwei Seiten müssen neu eingedeckt, die anderen beiden gereinigt werden. Im Schnitt sei eine Reinigung alle zehn Jahre nötig, erklärt Jakalski. „Das ist aber von vielen Faktoren abhängig“, ergänzt Dolmetscher Budniak mit eigenen Worten. Zum Beispiel seien das Klima oder der Dachwinkel entscheidend. „Ist das Dach flach, hat das Wasser mehr Zeiteinzudringen.“
Hauptaufgabe bei der Reinigung: das Moos entfernen. „Außerdem entfernen wir Vogelnester. Teile des Dachs, die vermodert sind, erneuern wir“, sagt Budniak. Jeder Arbeitsschritt ist Handarbeit. Elektrische Geräte sind fehl am Platz. Die Dachdecker verwenden Harke und Malerkelle. „Man muss sehr vorsichtig sein, sonst zieht man die Halme heraus“, sagt Budniak. Das Material ist unbehandelt. 100 Prozent Natur, so Budniak. „Keine Chemie. Das Schilfrohr lässt sich eh’ nicht so gut behandeln. Es geht leicht kaputt oder platzt auf.“
Einst mit Roggenstroh gedeckt
Dass das Dach mit Schilfrohr eingedeckt wird, ist ein kleiner Traditionsbruch: Ursprünglich habe man Roggenstroh für die Reetdächer verwendet, erklärt Museumspädagoge Peter Schüßler. „Das wuchs früher 1,70 Meter hoch.“In der modernen Landwirtschaft unvorstellbar. Daher muss heutzutage eine Alternative her. 14 Tonnen Schilfrohr verarbeiten die Handwerker in den kommenden Wochen, schätzt Jarosıaw Jakalski . Damit werden eine lange und eine Giebelseite neu gedeckt. Das Schilfrohr wird in Bündeln geliefert, etwa 3500 Stück. „Irgendwie muss das Material ja nach oben kommen. Die Bündel können wir werfen“, erklärt Budniak.
Ehe es dazu kommt, müssen die Handwerker Vorarbeiten leisten. „Wenn wir das alte Schilfrohr entfernt haben, müssen wir die Holzkonstruktion des Daches untersuchen“, erklärt Jakalski. Je nach Stabilität müssten sie nachbessern und Teile austauschen.
Doch die Dachseiten werden nicht vollständig offen gelegt, sondern stückweise. „Immer so weit, wie wir an einem Tag kommen“, sagt Budniak. Das sei auch abhängig von der Wetterlage. Gedeckt wird von oben nach unten. Der Dachfirst kommt ganz zum Schluss. „Zuerst legen wir die Bündel in eine Reihe. Dann machen wir sie frei und bearbeiten sie so, dass sie einigermaßen glatt sind.“Mit einer Kelle versetzten sie das Material schließlich in den richtigen Winkel, erklärt Budniak. Der liege in diesem Fall bei rund 60 Grad, schätzt der Dachdeckermeister Jakalski. Mit Drähten wird das Schilfrohr im Anschluss an dünnen Metallstangen festgebunden und auch geschraubt. Um sich vorarbeiten zu können, verwenden die Männer keine gewöhnliche Leiter. Sie nutzen kleine Holztritte. Die Handwerker können sie in die Dachlatten einhaken und nach Belieben versetzen.
60 Jahre sollte ein Dach halten
Ist das Dach neu eingedeckt, machen Jakalski und seine beiden Kollegen noch lange nicht Feierabend. „Dann kommen noch kosmetische Nacharbeiten. Das braucht viel Zeit.“So müssten sämtliche Unebenheiten in der Fläche ausgebügelt werden. Natürlich auch per Handarbeit.
60 Jahre müsste ein Reetdach unter den Standortbedingungen in Kürnbach aushalten, sagt Jakalski. Eine Erneuerung sei inzwischen oftmals eine Geldfrage, ergänzt Budniak aus seiner persönlichen Erfahrung. Sein Handwerk stirbt aus. Für den Handwerker bedauernswert. „Eigentlich ist so ein Reetdach doch toll. Es zeigt, wie einfach das Leben sein und welche Naturschätze man benutzen kann.“