Schwäbische Zeitung (Biberach)
Kieshunger
Während Schweiz und Österreich eigenen Kiesabbau aus Umweltschutzgründen bremsen, exportieren Gruben aus der Region fleißig
Hinter dichten Wäldern verstecken sich an mehreren Orten Oberschwabens Mondlandschaften. In Leutkirch im Landkreis Ravensburg und bei den riesigen Kiesabbaugebieten im Landkreis Sigmaringen erstrecken sie sich teilweise über mehrere Dutzend Hektar. Tiefe Gruben klaffen im Boden, kleine Steinchen fahren auf Förderbändern in die Höhe, werden zu Kies veredelt und verlassen auf Lastern das Gelände. Und was viele Kiesgegner schon lange vermuten: Nicht wenige verlassen auch das Land in Richtung Österreich und Schweiz. Die Protestierenden fürchten den Ausverkauf der Heimat. „Wir beuten die Natur aus, bauen den Kies ab und produzieren dadurch einen Kiesnotstand in der Zukunft. So sieht nachhaltiges Wirtschaften für mich nicht aus“, sagt Bruno Werner von Kreit von der Interessengemeinschaft Grenis/Grund in Vogt im Landkreis Ravensburg.
Die Gruppe um Bruno Werner von Kreit kämpft seit eineinhalb Jahren gegen eine elf Hektar große Kiesgrube, die im Altdorfer Wald entstehen soll. Wie überall, wo eine neue Grube eröffnet oder eine bestehende erweitert werden soll, hat sich auch in der der 4600-Einwohner-Gemeinde Vogt Widerstand geregt. Unterschriftenlisten, Bürgerinitiativen, Versammlungen und Demonstrationen – und das mittlerweile weit über die Gemeindegrenzen hinaus. Mehrere Tausend Menschen sind von dem Thema betroffen, weil sie entweder mit Trinkwasser aus der nahe gelegenen Quelle versorgt werden und Angst vor möglichen Einflüssen des Abbaus haben, weil ihr Naherholungsgebiet verschwinden soll oder weil der Schwerlastverkehr auf den kleinen Straßen durch ihre Dörfer rollen soll. Immer wieder fragen sich die Menschen: Und das alles für Kies, der die Region für immer verlässt?
Szenenwechsel Friedrichshafen: Die Fähre sinkt tiefer ins Wasser, als der Lastwagen die Schwelle des Anlegers überfahren hat. Der Blick vom Hafen auf die andere Bodenseeseite ist an diesem Morgen nicht ganz so klar wie sonst. Ein paar Wolken hängen am Himmel. Der Dunst über dem See lässt gerade noch die Schatten der Alpen erahnen, die mächtig über dem See thronen. Es rumpelt wieder. Ein zweiter Lastwagen der Spedition Walser aus Fronreute im Kreis Ravensburg schnauft und quält sich auf die Fähre. Die Kennzeichen der Sattelzüge, die hier regelmäßig auf ihre Überfahrt warten, geben Aufschluss über ihre Herkunft: Es sind die Landkreise Sigmaringen, Tuttlingen, Ravensburg sowie der Bodenseekreis. Ihr Ziel: Romanshorn, die Schweiz. Ihre Fracht: mehrere Tonnen Kies. Wie Recherchen der „Schwäbischen Zeitung“belegen, verlassen jedes Jahr mehr als eine Million Tonnen davon die Region Bodensee-Oberschwaben in Richtung Schweiz und Österreich. Allein mit der Bodenseefähre gingen 2017 laut Zahlen des Hauptzollamts Ulm 97 000 Tonnen Kies, Splitt und Sand in die Eidgenossenschaft. Das sind mindestens 3200 Lastwagen.
Tendenz weiter steigend. Kies – das ist Oberschwabens Öl. Die Welt giert nach Kies und Sand, weil überall gebaut wird. Die logische Folge: Mittlerweile werden auch diese billigen aber wertvollen Rohstoffe immer knapper. Denn Kies ist eine wichtige Zutat für die Betonherstellung, und Beton ist in Zeiten der Hochkonjunktur sehr gefragt. Die Wirtschaft brummt, die Zinsen sind im Keller, der Hunger der Industrie nach Gewerbeflächen ist groß. Überall entstehen Straßen, Bau- und Gewerbegebiete. Und wer bauen will, braucht Kies. Ohne Kies kein Beton, ohne Kies kein Asphalt. Der Bundesverband Mineralische Rohstoffe geht einem Artikel der Saarbrücker Zeitung zufolge sogar von regionalen Engpässen bei der Rohstoffversorgung aus.
Große Vorkommen, leicht abbaubar
Oberschwaben ist – anders als andere Regionen in Deutschland – gesegnet mit reichen Kiesvorkommen. Bei der letzten Eiszeit, der Würmeiszeit vor 115 000 bis 10 000 Jahren, schoben Gletscher Erdmassen und Gestein von den Alpen bis nach Oberschwaben. Sie formten die Landschaft mit Moränen und hinterließen viel Kies – jetzt wird er in Dutzenden Lastwagenfuhren täglich in die Schweiz und nach Österreich zurückgefahren. Der Regionalverband Bodensee-Oberschwaben, zuständig für den Bodenseekreis sowie die Landkreise Ravensburg und Sigmaringen, rechnet mit einem Jahresbedarf von neun Millionen Tonnen pro Jahr für die Region. Trotzdem wird exportiert, weil es keine Vorgaben gibt, wo das Material verwendet werden darf. Das würde
auch der marktwirtschaftlichen Grundordnung der Bundesrepublik widersprechen.
Aber stimmt es, dass das meiste ins Ausland geht? Baden-Württemberg exportiert etwa acht Prozent der Fördermenge des Landes. Das dürfte in den Grenzregionen mehr sein. Konkrete Zahlen für die Region Bodensee-Oberschwaben gibt es aber nicht – auch nicht in der im September 2017 von der Industrie- und Handelskammer Bodensee-Oberschwaben veröffentlichten Studie zum Thema Rohstoffabbau. Hiesige Kiesunternehmer sprechen von einem „Bruchteil“. Der Regionalverband geht von etwa 500 000 Tonnen Kies und Sand pro Jahr in die Schweiz aus, der Export nach Österreich wird mit etwa 300 000 Tonnen pro Jahr beziffert. Das wären sechs bis neun Prozent des Jahresbedarfs in der Region.
Die Kiesgrube Roßberg in der Gemeinde Wolfegg im Kreis Ravensburg: Hinter dichten Nadelbäumen fahren Schaufelradbagger zwischen Kieshaufen hin und her. Hier werden auf 50 Hektar 650 000 Tonnen Kies pro Jahr abgebaut. Roßberg ist eine der wenigen Gruben, von der Teile des Materials mit der Bahn abtransportiert werden. Wie viel jedoch konkret exportiert wird, will man aus Wettbewerbsgründen nicht sagen. Es handele sich um einen „geringfügigen Teil“. „Wir exportieren lediglich Überschussmaterial, das im Oberschwäbischen nicht benötigt wird“, versichert Florian Schmid von der Geiger-Unternehmensgruppe, zu der Roßberg gehört. Der Großteil bleibe aber in der Region rund um die Grube. Als Beispiel nennt Schmid den neuen Ferienpark Center Parcs in Leutkirch, der mit Kies aus Roßberg gebaut wird. Trotzdem exportiert die Geiger-Gruppe auch nach Österreich.
Ein Großabnehmer für Kies aus Deutschland ist das österreichische Bundesland Vorarlberg. Eine im Juli veröffentlichte Bedarfsstudie zum Thema Rohstoffe von der Geomaehr GmbH für das Land Vorarlberg spricht man von 660 000 Tonnen Import mineralischer Rohstoffe aus
Deutschland pro Jahr – das Gros davon Kies. Wie bei der Wirtschaftskammer Vorarlberg zu erfahren ist, kommt der fast ausschließlich aus der Region Bodensee-Oberschwaben. Der Großteil stammt aus dem Landkreis Ravensburg. Aus Bayern importiert das österreichische Bundesland nur etwa zwei Prozent. Zu lange Transportdistanzen lohnen sich nämlich nicht. Offizielle Zahlen aus Deutschland gehen von Distanzen bis zu 35 Kilometern aus, damit es rentabel bleibt. In der Vorarlberger Studie ist allerdings zu lesen: „Ins mittlere Rheintal kann Kies aus Deutschland mit Transportdistanzen von circa 90 Kilometern billiger bezogen werden als aus nahegelegenen Kiesabbaufeldern in Vorarlberg. Derzeit werden knapp 19 Prozent der derzeitigen Produktionsmenge an mineralischen Rohstoffen in Vorarlberg aus Deutschland importiert.“In der Studie rechnet man außerdem mit einem massiven Rückgang der Abbaumengen im eigenen Bundesland in den nächsten Jahren, wenn nicht neue Gruben in Vorarlberg genehmigt würden. Den Mangel müsste die Vorarlberger Bauwirtschaft mit zusätzlichen Kiesimporten aus Deutschland und Tirol kompensieren.
Ab Werk fast nur halb so teuer
Ein weiterer Grund für die Einfuhr von Kies aus dem Nachbarland ist der Preis, denn deutscher Kies ist im Schnitt etwa 40 bis 50 Prozent (ab Werk) günstiger, weil Auflagen, die sich Kritiker für die Region Bodensee-Oberschwaben sehnlichst wünschen, in Vorarlberg schon längst Realität sind. Aber auch die geologischen Voraussetzungen seien hierzulande besser, heißt es bei der Wirtschaftskammer Vorarlberg. „In Deutschland gibt es im Gegensatz zu Vorarlberg sehr große Kiesvorkommen, die kostengünstig abgebaut werden können. Unterm Strich ist es eine Kostenfrage“, sagt Thomas Peter von der Wirtschaftskammer. Im Gegensatz zu Deutschland erhebt das Land Vorarlberg bei Kiesabbau eine sogenannte Naturschutzabgabe, die den Preis in die Höhe treibe, so Peter. Dieser Satz liegt momentan bei 75,8 Cent pro Tonne. 35 Prozent davon erhält die vom Abbau betroffene Gemeinde, der Rest geht an den Nazurschutzfonds. Wegen eben jener
Abgabe rechne sich auch kein Export nach Deutschland. Würde die Region Bodensee-Oberschwaben bei einem Jahresbedarf von neun Millionen Tonnen Kies eine solche Abgabe erheben, käme eine Summe von mindestens 6,82 Millionen Euro zusammen.
Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick in die Schweiz. Laut den Zahlen des Fachverbandes der Schweizerischen Kies- und Betonindustrie (FSKB) liegt die Importrate von Kies in der Schweiz bei etwa 10 bis 15 Prozent. „Je näher wir an die Grenze kommen, desto höher ist die Importrate“, erklärt FSKB-Direktor Martin Weder im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Im Tessin und im Kanton Basel liegt sie gar bei bis zu 90 Prozent. In der Nordostschweiz, an der Grenze zu Deutschland und Österreich, ist sie allerdings niedriger. Laut Zahlen der Kantonalen Verwaltung St. Gallen lag der Kiesbedarf im Kanton 2016 bei etwa 1,26 Millionen Tonnen. Größter Lieferant war Österreich mit 245 000 Tonnen, danach kommt Deutschland mit 122 000 Tonnen. Die Zahlentabellen der Vorjahre zeigen aber auch einen sinkenden Anteil österreichischer Importe und einen steigenden Anteil deutscher Importe auf. Das deckt sich mit Zahlen des Landes Baden-Württemberg, das steigenden Export in die Schweiz festgestellt hat.
Die Schweiz ist wegen ihrer strengen gesetzlichen Auflagen auf Kiesimporte angewiesen, heißt es beim „Kantonalverband Steine, Kies, Beton, St. Gallen“(KSKB). Aus gesetzlichen Gründen könne zum Bedauern der Kiesindustrie im Rheintal und in der Schweizer Bodenseeregion kein Kies mehr abgebaut werden, obwohl das St. Galler Rheintal eine der kiesreichsten Regionen im Kanton ist. „Grundwasserschutz wird in der Schweiz über alles gestellt, da haben regionale Ver- und Entsorgungsaufträge keinen Platz“, sagt KSKB-Präsident Ueli Jud. Er plädiert für eine regionale Kiesversorgung. Das schaffe Mehrwerte, ökologische Vorteile und spare CO2 ein.
Gerade die St. Galler Kiesindustrie habe es durch ihre Nähe zu Österreich und Deutschland schwer. „Die geologischen Voraussetzungen, die Kostenstrukturen aber auch die gesetzlichen Auflagen im Ausland sind immer erheblich tiefer als in der Schweiz. Das sind Fakten, die die einheimischen Unternehmer vor allem in grenznahen Gegenden
sehr stark spüren“, so Ueli Jud. Kies aus Deutschland habe meist eine sehr gute Qualität und sei je nach Franken-Euro-Wechselkurs noch günstiger als das heimische Material. „Der Kunde orientiert sich bei qualitativ gleichwertigen Produkten immer am Preis.“
Ortswechsel: Auf der Autobahn 96 Richtung Bregenz rollen Lastwagen mit österreichischen Kennzeichen ins Alpenpanorama. Doch längst nicht jeder Sattelzug hat Vorarlberg als Ziel. Sie passieren das Bundesland und fahren über St. Margrethen oder Liechtenstein in die Schweiz. Die Vorarlberger Rohstoffbedarfsstudie geht von einem Transit von 270 000 bis 300 000 Tonnen deutschen Kies pro Jahr durch das Bundesland aus. „Das ist mit jeweils 10 000 Hin- und Rückfahrten eine spürbare Verkehrsbelastung“, heißt es in dem Papier. Auch die kommen laut Wirtschaftskammer Vorarlberg zum Großteil aus dem Landkreis Ravensburg. Zwar kann die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) die Zahlen nicht bestätigen, sie geht aber davon aus, dass die Frachten aus dem grenznahen Ausland stammen – also aus der Region BodenseeOberschwaben. Beim Grenzübertrittsgebiet St. Margrethen an der Grenze zu Vorarlberg registrierte die EZV im vergangenen Jahr 957 000 Tonnen Kies, Sand und Steine. Zieht man von dieser Summe die 570 000 Tonnen Kiesimport aus Vorarlberg ab, bleiben sogar insgesamt 387 000 Tonnen übrig, die ebenfalls aus Deutschland stammen dürften.
Sättigung nicht in Sicht
Die Fähre tutet lange. Nach 40 Minuten läuft sie in den Romanshorner Hafen ein. Die Fahne mit weißem Kreuz auf rotem Grund flattert im Wind, daneben hängen die deutsche und die österreichische Flagge. Die drei Länder bilden eine Wirtschaftsregion. Das wird auch immer wieder von allen Seiten beteuert. Der Handel ist frei. In Romanshorn fahren die Kieslaster von Bord. Ihre Fracht aus dem Landkreis Sigmaringen geht in Betonwerke oder Asphaltmischwerke. Noch bis 2019 saniert die Schweiz die Autobahn 1 zwischen den Anschlüssen Rheineck und St. Margrethen. Außerdem will der Hauptaktionär der Schweizerischen BodenseeSchifffahrt am Romanshorner Hafen das größte Hotel des Thurgaus bauen. Der Hunger nach billigem Kies aus der Region Bodensee-Oberschwaben ist noch lange nicht gestillt.