Schwäbische Zeitung (Biberach)
Ermahnungen für Berlin, Plädoyers für Europa
Beim Bodensee Business Forum streiten Müller und Asselborn für die EU – Oettinger kritisiert die Regierung
FRIEDRICHSHAFEN - In Berlin gerät die Große Koalition aufgrund der Causa Hans-Georg Maaßen ins Wanken. In Salzburg streiten die Staatsund Regierungschefs der EU weiter weitgehend ergebnislos über die Migrationsfrage und den Brexit: Kein Wunder, dass aus Friedrichshafen, wo am Donnerstag das Bodensee Business Forum (BBF) der „Schwäbischen Zeitung“abgehalten wurde, mahnende Worte kamen. Zu einem gemeinsamen Eintreten „gegen die, die Europa kaputt machen wollen“, hat Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Graf-Zeppelin-Haus aufgerufen. Gegen Herausforderungen wie den Brexit, mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Populismus sei ein Aufschrei nötig. „Ich habe nie gedacht, dass die EU einmal in die Lage kommt, dass sie ihre Grundprinzipien nach innen verteidigen muss“, sagte er mit Blick auf die polnischen Justizreformen, gegen die die EU ein Strafverfahren eröffnet hat.
„Europa unter Druck“war eines der wichtigsten Themen beim BBF, das in diesem Jahr unter dem Motto „Vernetzen statt verzweifeln: Zukunftsvisionen für ein neues Europa“stand. EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) rügte hierbei die deutsche Bundesregierung scharf. „Brüssel wartet seit einiger Zeit auf eine verantwortungsvolle Regierung in
Berlin“, erklärte Oettinger. Der frühere Ministerpräsident von BadenWürttemberg forderte die Bürger auf, für die europäische Werteordnung zu kämpfen. Denn es entwickle sich derzeit ein Kampf der Systeme. „Es gibt Autokraten in Moskau, in Ankara, und auch aus dem Weißen Haus tweeten Autokraten jeden Tag.“Hierzulande rede man über das Oktoberfest oder das Handicap beim Golf. „Von der Grenze zur Dekadenz sind wir nur noch ein paar Schritte entfernt – es geht uns sehr gut, sogar
zu gut.“Deutschland werde derzeit seiner Verantwortung nicht gerecht. Auch Österreichs Ex-Kanzler Christian Kern schaut mit Verwunderung auf den in Deutschland verbreiteten Kulturpessimismus, den er für eine politische Gefahr hält. Diesen Ängsten müsse man Visionen für Europa gegenüberstellen.
Visionen für Afrika stellte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) beim BBF am See vor. Er forderte mehr deutsches und europäisches Engagement in Afrika. Die Probleme
seien alle erkannt, erklärte Müller, „aber man muss es wollen und tun. Und nicht erst dann, wenn die Afrikaner über das Mittelmeer zu uns kommen.“Bärbel Dieckmann, Präsidentin der Welthungerhilfe, mahnte angesichts von Hunger und Armut in Afrika: „Wir werden es am Ende nicht aushalten, wenn wir die Situation ignorieren.“
Im Umgang mit der Türkei forderten sowohl der grüne Spitzenpolitiker Cem Özdemir als auch die NeuUlmer Journalistin Mesale Tolu klare
Worte in Richtung von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei dessen anstehendem Staatsbesuch in Deutschland Ende September. „Für mich ist es sehr unangenehm zu wissen, dass er mit vollem Glanz empfangen wird“, sagte Tolu. Am Donnerstag wurde bekannt, dass Erdogan wohl auf einen Auftritt vor Tausenden Deutschtürken verzichten wird. „Eine große Rede in einer Halle“sei nicht geplant, erklärte ein Sprecher der türkischen Botschaft in Berlin.
FRIEDRICHSHAFEN - Richard Gutjahr hat erlebt, was Hass und Hetze im Netz im Leben einer Familie anrichten können. Beim Bodensee Business Forum hat er seine Geschichte, seinen Kampf vorgestellt. Gemeinsam mit Michael Blume, dem Antisemitismusbeauftragten der baden-württembergischen Landesregierung, diskutierte Gutjahr, welche Strategien gegen die anonyme Hetze helfen.
Hinter ihm steht der Hass, der ihn verfolgt. Während Gutjahr erzählt, was ihm widerfahren ist, sind sie immer wieder auf der Leinwand zu sehen: die Tweets, Videos und Facebook-Beiträge, die das Leben seiner Familie zur Hölle machten. „Medienhure“wird er dort genannt. Auch „Crisis actor“, also „Krisenschauspieler“, ist noch eine der harmloseren Bezeichnungen. Ihm und seiner Familie werden die schlimmsten Tode gewünscht. Das meiste ist nicht zitierfähig. Getroffen hat ihn dieser Hass durch Zufall und die Macht des Internets. Zufällig war Richard Gutjahr einer der ersten Journalisten, die vom Lkw-Anschlag in Nizza berichteten – weil er dort Urlaub machte. Vom Hotelbalkon aus filmte er am 14. Juli 2016 die Parade zum Nationalfeiertag, als ein Lkw-Fahrer seinen Wagen in die Menschenmenge lenkte. 86 Menschen starben.
Zufällig, weil er dort wohnt, war Gutjahr auch in München schnell vor Ort, als ein 18-Jähriger am OlympiaEinkaufszentrum neun Menschen erschoss. Allein seine Anwesenheit hier wie dort – und die Tatsache, dass seine Frau Jüdin ist – ließ über seine Familie hereinbrechen, was er „ShitTsunami“nennt: Hass, Antisemitismus und Stalking der schlimmsten Sorte. YouTuber und Blogger verbreiteten absurde Verschwörungsmythen über ihn, schrieben hämische Lieder, erkoren ihn und seine Frau zu Auslösern allen Übels dieser Welt. Staatsanwälte und Polizei, Facebook und YouTube konnten oder wollten nicht helfen.
Ein Jahr lang schwieg Gutjahr, hoffte, dass die Welle vorüberziehen würde. Doch aus wenigen Videos und Hassmails wurden Tausende. Namen, Adressen und Interessen von Frau und Kind wurden im Internet verbreitet, Todesdrohungen aus der ganzen Welt landeten täglich im Postfach. Dann, so erzählt Gutjahr rund 80 Zuhörern, „fasste ich einen Entschluss: Schlag zurück!“Inspiriert habe ihn dazu der US-Amerikaner Lenny Ponzer. Ein Familienvater, der seinen Sohn bei einem Schulamoklauf verlor und fortan ebenfalls als „crisis actor“bezeichnet wurde, der den Hass des Internets erlebte. „Ich musste lernen, dass man den Erzählungen der Verschwörungstheoretiker die eigene entgegenhalten muss“, sagt Gutjahr. „Abzuwarten hilft nicht. Diese Leute sind keine Trolle. Das sind professionell organisierte Kriminelle.“
Zum Glück gebe es gegen diese Kriminellen aber wirksame Strategien. Wie diese funktionieren, wird beim anschließenden Workshop mit Gutjahr und dem Antisemitismusbeauftragten Michael Blume deutlich. Für den Andrang reicht der kleine Raum im Zeppelinhaus kaum aus. Vor allem junge Gäste sammeln sich dicht gedrängt. Es ist die Generation Internet, jeder hat das Smartphone vor sich auf dem Tisch.
Gutjahr nimmt seins aus der Tasche, wiegt es langsam in Händen. „Das hier ist eine Waffe. Machen wir uns nichts vor“, sagt er. Ein Tweet, ein Like oder eine geteilte Falschnachricht könne ein Leben zerstören. „Wir geben diese Dinger an unsere Kinder. Aber keiner zeigt ihnen, wie sie damit umgehen können.“
Der neue Hexenhammer
Dass sich der Hass im Netz rasend schnell ausbreiten kann, weiß auch Michael Blume. Der Religionswissenschaftler vergleicht das Aufkommen der neuen Medien mit der Erfindung des Buchdrucks: „Neue Medien bieten immer Plattformen für Verschwörungsmythen. Denken Sie an den Hexenhammer von 1486.“Fake News in Buchform. Als Gegenstrategie empfiehlt er ebenfalls, den Lügen eigene Narrative entgegenzustellen. „Wir stehen am Scheideweg: Es kommt jetzt darauf an, ob die liberale Demokratie überlebt.“
Richard Gutjahr stimmt zu: „Das, was im Netz passiert, ist kein Spaß. Und es geht uns alle an. Wir müssen verhindern, dass die Lauten alle anderen übertönen, die Diskussionen beherrschen.“Viel zu lange habe man die Entwicklungen im Internet verpasst, Staatsanwälte und Polizei seien noch heute teils völlig ahnungslos. Im Raum folgen die Zuhörer den Ausführungen gespannt, manche tragen bei, fragen konkret: „Was können wir tun?“Mehr digitale Bildung hilft, sagen Gutjahr und Blume. Die Wortführer auszumachen, ihnen entgegenzutreten. Aber vor allem: „Wir alle müssen die Stimme erheben, laut sein, auch mal emotional werden“, sagt Gutjahr. Noch bestehe die Chance, dass Europa und die Welt gegen Populisten, Antisemiten und Kriminelle ankämpfen, sie besiegen könnten. Das alte Prinzip, dass man Trolle, also Verbreiter falscher Nachrichten, nicht füttern solle, „kann dann aber nicht mehr gelten. Wenn jeder von uns ein klein wenig Verantwortung übernimmt, erleben wir 2040 eine wunderbare digitale Welt.“